Schneetreiben
erpressbar?«
Susans Kinn begann zu beben, und dann ließ sie ihrenTränen freien Lauf. »Ich kann doch so nicht weitermachen«, schluchzte sie. »Wenn das Kind da ist, wie soll denn das überhaupt funktionieren, wenn er nicht …«
Die junge Frau sprach es nicht aus, aber auch Braun war klar, dass Teuberts übliches Ritual am Samstagnachmittag mit einem kleinen Kind so nicht mehr stattfinden konnte. Deshalb hatte sie sich den abstrusen Plan überlegt, ihn so sehr unter Druck zu setzen, dass er sich entweder doch noch für sie entschied oder ihr Schweigegeld zahlte.
»Ich kann Ihnen nur sagen, Frau Kiefer«, meinte Braun streng, »dass ich Erpressung für keine gute Lösung Ihres Problems erachte, wenn das Ihr Ziel gewesen sein sollte.« Er hatte noch einige offene Fragen zu klären. Eines interessierte ihn aber besonders: Wie viel Druck hatte die junge Frau bereits auf Teubert ausgeübt?
29
Emily hatte Anna auf der Autofahrt von Lübeck nach Hamburg gefühlt mindestens einhundert Mal gefragt, wann sie endlich im Theater ankämen. Als sie die Reeperbahn in Richtung Parkhaus entlanggefahren waren, hatte sie es in ihrem Kindersitz kaum noch ausgehalten, und Anna hatte Mühe gehabt, sie davon abzuhalten, sich nicht eigenmächtig abzuschnallen. Emily freute sich so sehr auf das Weihnachtsmärchen, dass ihre Wangen schon vor Aufregung glühten, bevor sie das Foyer erreicht hatten. Anna kaufte für sich und Emily Süßigkeiten und Wasser und schob ihre Tochter dann durch die Menge der Wartenden in den Innenraum des Tivolis hinein. Dort dirigierte sie Emily auf den ausgewiesenen Platz an einem der Tische nahe der Bühne. Anna hatte vor, sich nicht länger über Bendt zu ärgern. Er hatte sie mal wieder ganz kurzfristig versetzt. Trotz allem Verständnis, das sie für seine Tätigkeit als Kommissar bei der Mordkommission aufbrachte, gingen ihr seine Ausreden langsam auf die Nerven. Sie hatte sich darauf gefreut, gemeinsam mit ihm und Emily nach Hamburg zu fahren, sich die Vorstellung anzusehen und dann noch einen Bummel durch die Stadt zu unternehmen. Davon abgesehen fand sie es schade, dass seine Karte verfiel, weil sich am Tag vor Weihnachten keine andere Begleitung mehr gefunden hatte. Immerhin freute Emily sich, und Anna wollte versuchen, sich dieses Ereignis nicht verderben zu lassen. Sie liebte es, mit ihrer Tochter ins Theater zu gehen. Das Stück»100 auf einen Streich« versprach ein unvergessliches Theatererlebnis zu werden.
Anna war gerade dabei, für Emily einen Müsliriegel auszupacken, als ihr jemand vorsichtig auf die Schulter tippte und eine ihr gut bekannte Stimme »Hallo, ihr zwei«, sagte. Es war Tom mit seiner Tochter Lena.
»Das ist aber ein Zufall«, bemerkte Anna lachend. Tom und sie umarmten einander zur Begrüßung, während die Mädchen sich kritisch beäugten.
»Erst sehen wir uns eine Ewigkeit nicht, und jetzt treffen wir uns so kurz vor Weihnachten schon das zweite Mal«, stellte Tom fest und deutete auf seine Tochter Lena, die sich schüchtern an seine Seite schmiegte. »Das ist Lena«, sagte er und lehnte sich zu Emily hinunter.
»Hallo, Lena«, begrüßte Anna das hübsche Mädchen. »Wo sitzt ihr denn?« Tom deutete hinter sich in Richtung der dort befindlichen Sitzreihen.
»Wir haben hier vorne an den Tischen leider keine Karten mehr gekriegt«, sagte er laut gegen das Stimmengewirr der hereinströmenden Besucher. »Wenn ihr wollt, bleibt doch mit uns hier vorne und nimm Lena auf deinen Schoß«, schlug Anna vor. »Wir haben eine Karte übrig, und sollte jemand meckern, weil ihr zu zweit seid, könnt ihr ja immer noch nach hinten gehen.«
»Wie wär’s, Lena, wollen wir hier vorne bei Emily und Anna bleiben?«, fragte Tom. Er wartete aber eine Antwort gar nicht erst ab, sondern setzte sich neben Anna auf den freien Stuhl und hob Lena auf seine Knie.
Als das Stück losging, musterte Anna Tom und seine Tochter von der Seite. Anders als bei ihrem ersten Zusammentreffen mit Toms Tochter empfand sie es nicht alsschmerzlich, dass Lena dem Bild so nahekam, das sie sich von ihrer verstorbenen Tochter Marie machte. Im Gegenteil: Sie fand es tröstlich und rührend, Tom im Umgang mit Lena zu beobachten. Es war offensichtlich, dass er unabhängig davon, dass er gerade eine Trennung hinter sich hatte, dankbar und glücklich war, ein Kind zu haben. Anna begriff noch etwas anderes: Sie hatte es sich lange nicht eingestehen wollen, aber jetzt wurde ihr bewusst, dass ihr mit Bendt etwas fehlte
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