Schneewittchen muss sterben
kürzester Zeit einen der besten Strafanwälte Frankfurts für Tobias engagiert. Doch auch der hatte die Höchststrafe nicht abwenden können.
»Ich möchte euch nicht lange stören, ich bin nur gekommen, um dir ein Angebot zu machen«, sagte Claudius Terlinden nun und setzte sich wieder auf den Küchenstuhl. Er hatte sich kaum verändert in den letzten Jahren. Schlank und selbst jetzt, im November, braungebrannt, trug er das leicht ergraute Haar nach hinten gekämmt, seine früher scharf geschnittenen Gesichtszüge waren ein wenig schwammiger geworden. »Wenn du dich hier wieder eingewöhnt hast und nicht sofort einen Job findest, könntest du bei mir arbeiten. Was hältst du davon?«
Er blickte Tobias erwartungsvoll über den Rand seiner Halbbrille an. Obwohl er weder durch körperliche Größe noch durch ein besonders gutes Aussehen beeindrucken konnte, so strahlte er doch die gelassene Selbstsicherheit des erfolgreichen Unternehmers und eine angeborene Autorität aus, die andere Menschen dazu brachte, sich ihm gegenüber bescheiden, ja unterwürfig zu verhalten. Tobias setzte sich nicht auf den freien Stuhl, sondern blieb in den Türrahmen gelehnt stehen, die Arme vor der Brust verschränkt. Nicht dass es viele Alternativen zu Terlindens Angebot gegeben hätte, aber irgendetwas daran machte Tobias misstrauisch. In seinem teuren Maßanzug, dem dunklen Kaschmirmantel und den auf Hochglanz polierten Schuhen wirkte Claudius Terlinden in der schäbigen Küche wie ein Fremdkörper. Tobias spürte Ohnmacht in sich aufsteigen. Er wollte nicht in der Schuld dieses Mannes stehen. Sein Blick wanderte zu seinem Vater, der mit hochgezogenen Schultern dasaß und stumm auf seine gefalteten Hände starrte, wie ein devoter Leibeigener beim Besuch des Großgrundbesitzers. Dieses Bild gefiel Tobias überhaupt nicht. Sein Vater sollte es nicht nötig haben, sich vor jemandem ducken zu müssen, auch und erst recht nicht vor Claudius Terlinden, der das halbe Dorf mit seiner selbstverständlichen Großzügigkeit zu seinen Schuldnern gemacht hatte, ohne dass irgendjemand die Möglichkeit hatte, sich dafür zu revanchieren. Aber so hatte Terlinden es schon immer gehalten. Beinahe alle jungen Leute aus Altenhain hatten irgendwann einmal bei ihm gejobbt oder auf andere Art von ihm profitiert. Claudius Terlinden erwartete dafür keine andere Gegenleistung als Dankbarkeit. Da die Hälfte aller Altenhainer ohnehin bei ihm angestellt war, genoss er einen gottähnlichen Status in diesem Nest. Das Schweigen wurde unbehaglich.
»Na ja.« Terlinden erhob sich, und sofort sprang auch Hartmut Sartorius auf. »Du weißt ja, wo du mich findest. Sag mir einfach kurz Bescheid, wenn du dich entschieden hast.«
Tobias nickte nur und ließ ihn vorbeigehen. Er blieb in der Küche, während sein Vater den Gast zur Haustür begleitete.
»Er meint es nur gut«, sagte Hartmut Sartorius, als er zwei Minuten später zurückkehrte.
»Ich will nicht auf seine Gunst angewiesen sein«, erwiderte Tobias heftig. »Wie er hier auftritt, wie … wie ein König, der seinem Knecht die Gnade eines Besuches angedeihen lässt. Als wäre er etwas Besseres!«
Hartmut Sartorius seufzte. Er füllte den Wasserkessel und stellte ihn auf die Herdplatte.
»Er hat uns sehr geholfen«, sagte er leise. »Wir hatten ja nie etwas gespart, immer alles in den Hof und die Gaststätte gesteckt. Der Anwalt hat viel Geld gekostet, und dann blieben die Gäste weg. Irgendwann konnte ich die laufenden Kredite bei der Bank nicht mehr bedienen. Sie drohten mit Zwangsversteigerung. Claudius hat unsere Schulden bei der Bank abgelöst.«
Tobias starrte seinen Vater ungläubig an.
»Das heißt, der ganze Hof gehört eigentlich –
ihm?«
»Genau genommen ja. Aber wir haben einen Vertrag. Ich kann ihm den Hof jederzeit wieder abkaufen und habe Einsitzrecht auf Lebenszeit.«
Diese Neuigkeit musste Tobias erst einmal verdauen. Er lehnte den Tee, den sein Vater ihm anbot, ab.
»Wie viel Geld schuldest du ihm?«
Hartmut Sartorius zögerte einen Moment mit seiner Antwort. Er kannte das hitzige Temperament seines Sohnes von früher. »Dreihundertfünfzigtausend Euro. Mit dem Betrag stand ich bei der Bank in der Kreide.«
»Allein das Grundstück ist mindestens das Doppelte wert!«, erwiderte Tobias mit mühsam beherrschter Stimme. »Er hat deine Notlage ausgenutzt und ein Schnäppchen gemacht.«
»Wir konnten nicht wählerisch sein.« Hartmut Sartorius hob die Schultern. »Es gab keine
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