Schneewittchen muss sterben
die Kehrschaufel und ging zum Stammtisch, um die Scherben zusammenzukehren. Manfred Wagner wehrte sich nicht mehr und ließ sich widerstandslos abführen, aber in der Tür entwand er sich dem Zugriff der Männer und drehte sich um. Schwankend stand er da, die Augen blutunterlaufen. Speichel tropfte aus seinem Mundwinkel in den zerzausten Vollbart. Ein dunkler Fleck breitete sich auf der Vorderseite seiner Hose aus. Er muss ja richtig besoffen sein, dachte Amelie. Bisher hatte sie noch nicht erlebt, dass er sich vollpinkelte. Plötzlich empfand sie Mitleid für den Mann, über den sie sich bisher insgeheim immer lustig gemacht hatte. Ob der Mord an seiner Tochter der Grund für die beharrliche Regelmäßigkeit war, mit der er sich jeden Abend ins Koma soff? In der Gaststätte herrschte Totenstille.
»Ich krieg das Schwein!«, schrie Manfred Wagner. »Ich schlag ihn tot, dieses … dieses … Mörderschwein!«
Er senkte den Kopf. Und begann zu schluchzen.
Tobias Sartorius trat aus der Dusche und griff nach dem Handtuch, das er sich bereitgelegt hatte. Er wischte mit der Handfläche über den beschlagenen Spiegel und betrachtete sein Gesicht in dem schummerigen Licht, das die letzte funktionierende Glühbirne in dem Spiegelschrank spendete. Am Morgen des 16. September 1997 hatte er sich das letzte Mal in diesem Spiegel angesehen, wenig später waren sie gekommen, um ihn zu verhaften. Für wie erwachsen er sich damals gehalten hatte, in dem Sommer nach dem Abitur! Tobias schloss die Augen und lehnte die Stirn gegen die kalte Fläche. Hier, in diesem Haus, in dem ihm jeder Winkel so vertraut war, schienen die zehn Knastjahre wie ausgelöscht. Er erinnerte sich an jedes Detail der letzten Tage vor seiner Verhaftung, als sei alles erst gestern geschehen. Nicht zu fassen, wie naiv er gewesen war. Aber bis heute gab es die schwarzen Löcher in seiner Erinnerung, die ihm das Gericht nicht geglaubt hatte. Er öffnete die Augen, starrte in den Spiegel und war für eine Sekunde fast überrascht, das kantige Gesicht eines Dreißigjährigen zu sehen. Mit den Fingerspitzen berührte er die weißliche Narbe, die sich von seinem Kieferknochen bis zum Kinn zog. Diese Verletzung hatte man ihm in der zweiten Woche im Knast zugefügt, und sie war der Grund gewesen, weshalb er zehn Jahre lang in einer Einzelzelle gesessen und kaum Kontakt zu seinen Mithäftlingen gehabt hatte. In der strengen Knasthierarchie stand ein Mädchenmörder nur Millimeter über dem allerletzten Dreck, dem Kindsmörder. Die Tür des Badezimmers schloss nicht mehr richtig, ein kalter Luftzug traf seine feuchte Haut und ließ ihn erschauern. Von unten drangen Stimmen zu ihm herauf. Sein Vater musste Besuch bekommen haben. Tobias wandte sich ab und zog Unterhose, Jeans und T-Shirt an. Vorhin hatte er den deprimierenden Rest des großen Hofes besichtigt und festgestellt, dass der vordere Teil im Vergleich zum hinteren geradezu ordentlich aussah. Sein vages Vorhaben, Altenhain schnell wieder zu verlassen, hatte er aufgegeben. Unmöglich konnte er seinen Vater in dieser Verwahrlosung allein lassen. Da er ohnehin nicht so bald damit rechnen konnte, einen Job zu bekommen, würde er in den nächsten Tagen den Hof auf Vordermann bringen. Danach konnte er weitersehen. Er verließ das Bad, ging an der geschlossenen Tür seines ehemaligen Jugendzimmers vorbei und die Treppe hinunter, wobei er aus alter Gewohnheit die Stufen ausließ, die knarrten. Sein Vater saß am Küchentisch, der Besucher wandte Tobias den Rücken zu. Trotzdem erkannte er ihn sofort.
Als Oliver von Bodenstein, seines Zeichens Kriminalhauptkommissar und Leiter des Dezernats für Gewaltverbrechen bei der Regionalen Kriminalinspektion in Hofheim, um halb zehn nach Hause kam, traf er als einziges Lebewesen seinen Hund an, dessen Begrüßung eher verlegen als freudig ausfiel – untrügerisches Indiz für ein schlechtes Gewissen. Den Grund dafür roch Bodenstein, bevor er ihn sah. Er hatte einen stressigen Vierzehnstundentag hinter sich, mit einer öden Sitzung im LKA, einem Skelettfund in Eschborn, den seine Chefin, die Kriminalrätin Dr. Nicola Engel, mit ihrer Vorliebe für Anglizismen als »Cold Case« bezeichnete, und zu guter Letzt noch der Ausstandsfeier eines Kollegen vom K 23, der nach Hamburg versetzt wurde. Bodenstein knurrte der Magen, denn außer jeder Menge Alkohol hatte es nur ein paar Chips gegeben. Verstimmt öffnete er den Kühlschrank und erblickte dort nichts, was seine
Weitere Kostenlose Bücher