Schneewittchen muss sterben
Geschmacksnerven hätte befriedigen können. Hätte Cosima nicht wenigstens mal einkaufen können, wenn sie ihm schon kein Abendessen vorbereitete? Wo war sie überhaupt? Er ging durch die Eingangshalle, ignorierte den stinkenden Haufen und die Pfütze, die dank der Fußbodenheizung schon zu einer klebrigen, gelblichen Lache getrocknet war, und ging die Treppe hinauf zum Zimmer seiner jüngsten Tochter. Sophias Bettchen war erwartungsgemäß leer. Cosima musste die Kleine mitgenommen haben, wohin auch immer sie gefahren war. Er würde sie nicht anrufen, wenn sie ihm noch nicht einmal einen Zettel mit einer Information hinterlassen oder ihm eine SMS schreiben konnte! Gerade als Bodenstein sich ausgezogen hatte und ins Badezimmer ging, um zu duschen, klingelte das Telefon. Natürlich befand sich das Gerät nicht in der Ladestation auf der Kommode im Flur, sondern lag irgendwo im Haus herum. Mit wachsender Verärgerung machte er sich auf die Suche und fluchte, als er im Wohnzimmer auf irgendein herumliegendes Kinderspielzeug trat. Gerade als er das Telefon auf der Couch gefunden hatte, brach das Läuten ab. Gleichzeitig drehte sich der Schlüssel in der Haustür, und der Hund begann aufgeregt zu bellen. Cosima kam herein, auf einem Arm das schlaftrunkene Kind, in der anderen Hand ein riesiger Blumenstrauß.
»Du bist ja zu Hause«, sagte sie als einzige Begrüßung zu ihm. »Warum gehst du nicht ans Telefon?«
Sofort war er in Harnisch.
»Weil ich es erst mal suchen musste. Wo warst du überhaupt?«
Sie gab ihm keine Antwort, ignorierte die Tatsache, dass er bis auf die Unterhose nackt war, und ging an ihm vorbei in die Küche. Dort legte sie den Blumenstrauß auf den Tisch und hielt ihm Sophia entgegen, die nun gänzlich wach war und unleidlich quengelte. Bodenstein nahm seine kleine Tochter auf den Arm. Er roch sofort, dass die Windel bis zum Rand voll sein musste.
»Ich hatte dir mehrere SMS geschrieben, dass du Sophia bei Lorenz und Thordis abholst.« Cosima zog ihren Mantel aus. Sie sah erschöpft aus und genervt, aber er fühlte sich unschuldig.
»Ich habe keine SMS gekriegt.«
Sophie wand sich in seinen Armen und begann zu weinen.
»Weil dein Handy aus war. Du hast doch seit Wochen gewusst, dass ich heute Nachmittag im Filmmuseum bin, bei der Eröffnung der Fotoausstellung über Neuguinea.« Cosimas Stimme klang scharf. »Eigentlich hattest du mir versprochen, heute Abend zu Hause zu sein und auf Sophia aufzupassen. Als du mal wieder nicht aufgetaucht bist und dein Handy ausgeschaltet war, hat Lorenz Sophia abgeholt.«
Bodenstein musste sich eingestehen, dass er Cosima tatsächlich versprochen hatte, heute Abend früh zu Hause zu sein. Er hatte es vergessen, und das verärgerte ihn noch zusätzlich.
»Sie hat die Windel voll«, sagte er und hielt das Kind ein Stück von sich weg. »Außerdem hat der Hund ins Haus gemacht. Du hättest ihn doch wenigstens rauslassen können, bevor du weggegangen bist. Und du könntest auch mal wieder einkaufen gehen, damit ich nach einem langen Arbeitstag etwas zu essen im Kühlschrank finde.«
Cosima antwortete nicht. Sie bedachte ihn stattdessen mit einem Blick unter hochgezogenen Brauen, der ihn richtig in Rage brachte, weil er sich sofort verantwortungslos und mies fühlte. Sie nahm ihm das weinende Kind ab und ging nach oben, um es trockenzulegen und ins Bett zu bringen. Bodenstein stand unentschlossen in der Küche. In seinem Innern tobte ein Kampf zwischen Stolz und Vernunft, schließlich siegte Letztere. Seufzend nahm er eine Vase aus dem Schrank, ließ Wasser einlaufen und stellte die Blumen hinein. Aus der Vorratskammer holte er einen Eimer und eine Rolle Kleenex und machte sich daran, die Hinterlassenschaften des Hundes in der Eingangshalle zu beseitigen. Das Letzte, was er eigentlich wollte, war ein Streit mit Cosima.
»Hallo, Tobias.« Claudius Terlinden lächelte freundlich. Er erhob sich von seinem Stuhl und streckte ihm die Hand hin. »Schön, dass du wieder zu Hause bist.« Tobias ergriff kurz die dargebotene Hand, blieb aber stumm. Der Vater seines ehemals besten Freundes Lars hatte ihn mehrfach im Gefängnis besucht und ihm versichert, dass er seinen Eltern helfen würde. Tobias hatte sich die Beweggründe für seine Freundlichkeit nie erklären können, denn er hatte Terlinden durch seine Aussage während der Ermittlungen seinerzeit ziemliche Probleme bereitet. Das schien dieser ihm nicht nachgetragen zu haben, im Gegenteil, er hatte innerhalb
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