Schneewittchen muss sterben
Alternative. Sonst hätte die Bank den Hof zwangsversteigert, und wir hätten auf der Straße gestanden.«
Plötzlich fiel Tobias noch etwas ein. »Was ist mit dem Schillingsacker?«, fragte er.
Sein Vater wich seinem Blick aus und betrachtete den Wasserkessel.
»Papa!«
»Mein Gott.« Hartmut Sartorius schaute hoch. »Das war doch nur eine Wiese!«
Tobias begann zu verstehen. In seinem Kopf fügten sich die Details zu einem Bild zusammen. Sein Vater hatte Claudius Terlinden den Schillingsacker verkauft, deshalb hatte die Mutter ihn verlassen! Es war nicht einfach nur eine Wiese gewesen, sondern die Mitgift, die sie mit in die Ehe gebracht hatte. Der Schillingsacker war eine Apfelbaumwiese gewesen mit einem rein ideellen Wert, erst nach der Änderung des Flächennutzungsplanes im Jahr 1992 war sie das wohl wertvollste Grundstück in der Altenhainer Gemarkung gewesen, denn sie lag mit beinahe 1500qm mitten im geplanten Gewerbegebiet. Terlinden war seit Jahren scharf darauf gewesen.
»Was hat er dir dafür bezahlt?«, fragte Tobias mit flacher Stimme.
»Zehntausend Euro«, gab sein Vater zu und ließ den Kopf hängen. Ein so großes Grundstück mitten im Gewerbegebiet war das Fünfzigfache wert! »Claudius hat es dringend gebraucht, für seinen Neubau. Nach allem, was er für uns getan hat, konnte ich einfach nicht anders. Ich musste es ihm geben.«
Tobias biss die Zähne aufeinander und ballte in hilflosem Zorn die Hände zu Fäusten. Er konnte seinem Vater keine Vorwürfe machen, denn er allein war schuld an der misslichen Lage, in die seine Eltern geraten waren. Plötzlich hatte er das Gefühl, in diesem Haus, in diesem verdammten Dorf ersticken zu müssen. Trotzdem würde er bleiben, und zwar so lange, bis er herausgefunden hatte, was vor elf Jahren wirklich geschehen war.
Amelie verließ das Schwarze Ross um kurz vor elf durch den Hinterausgang neben der Küche. Gerne wäre sie heute Abend länger geblieben, um noch mehr über das Thema des Tages zu erfahren. Aber Jenny Jagielski achtete streng auf die Vorschriften des Jugendarbeitsschutzgesetzes, da Amelie erst siebzehn Jahre alt war und sie keinen Ärger mit den Behörden riskieren wollte. Amelie war es egal, sie war froh, dass sie den Job als Kellnerin hatte und eigene Kohle verdiente. Ihr Vater hatte sich als der Geizhals erwiesen, als den ihre Mutter ihn immer beschrieben hatte, und verweigerte ihr das Geld für die Anschaffung eines neuen Laptops mit der Begründung, der alte tue es ja auch noch. Die ersten drei Monate in diesem elenden Dorf waren grausam gewesen. Da jedoch das Ende ihres unfreiwilligen Aufenthalts in Altenhain absehbar war, hatte sie beschlossen, sich für die fünf Monate bis zu ihrem 18. Geburtstag so gut wie möglich zu arrangieren. Spätestens am 21. April 2009 würde sie ohnehin in den erstbesten Zug zurück nach Berlin steigen. Hindern konnte sie dann niemand mehr daran. Amelie zündete sich eine Zigarette an und blickte sich in der Dunkelheit nach Thies um, der jeden Abend auf sie wartete, um sie nach Hause zu begleiten. Ihre enge Freundschaft war für die Tratschweiber im Dorf ein gefundenes Fressen. Die wildesten Gerüchte machten die Runde, aber das interessierte Amelie nicht. Thies Terlinden lebte mit dreißig Jahren noch immer bei seinen Eltern, weil er nicht ganz richtig im Kopf war, wie man im Dorf hinter vorgehaltener Hand erzählte. Amelie schulterte ihren Rucksack und lief los. Thies stand unter der Laterne vor der Kirche, die Hände in den Jackentaschen vergraben, den Blick auf den Boden gesenkt, und schloss sich ihr wortlos an, als sie an ihm vorbeiging.
»Heute Abend war richtig was los«, erzählte Amelie und berichtete Thies von den Ereignissen im Schwarzen Ross und was sie über Tobias Sartorius erfahren hatte. Sie hatte sich daran gewöhnt, von Thies so gut wie nie eine echte Antwort zu bekommen. Er sei dumm, hieß es, und er könne nicht sprechen, der Dorfdepp. Dabei stimmte das nicht. Thies war überhaupt nicht dumm, er war eben … anders. Amelie war auch anders. Ihr Vater mochte es nicht, dass sie ihre Zeit mit Thies verbrachte, aber er konnte nichts dagegen tun. Wahrscheinlich, so dachte Amelie hin und wieder mit zynischer Belustigung, hatte ihr spießiger Vater es längst bitter bereut, dass er auf Stiefmama Barbaras Drängen seine durchgeknallte Tochter aus seiner kurzen ersten Ehe bei sich aufgenommen hatte. Er war in ihren Augen nichts anderes als ein grauer konturloser Fleck ohne Ecken, Kanten
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