Schneewittchen muss sterben
späten Vormittag Prinzessin Diana zu Grabe getragen. Die halbe Welt hatte vor den Fernsehern gesessen und dabei zugesehen, wie der Sarg mit Englands tödlich verunglückter Rose durch die Straßen der englischen Hauptstadt gefahren wurde. Die ganze Kerb hatte man in Altenhain dennoch nicht ausfallen lassen wollen. Wären sie doch nur besser abends alle zu Hause geblieben!
Tobias seufzte und drehte sich auf die Seite. Es war so still, dass er seinen Herzschlag hören konnte. Für einen Moment gab er sich der Illusion hin, er wäre wieder zwanzig und das alles nicht passiert. Sein Studienplatz wartete in München auf ihn. Mit seinem Notendurchschnitt von 1,1 beim Abitur hatte er ihn ohne Probleme bekommen. In die glücklichen Erinnerungen mischten sich wieder schmerzliche. Auf der ausgelassenen Abifeier auf dem Gartengrundstück eines Klassenkameraden in Schneidhain hatte er Stefanie das erste Mal geküsst. Laura war vor Zorn beinahe geplatzt und hatte sich vor seinen Augen Lars an den Hals geworfen, um ihn eifersüchtig zu machen. Aber wie hatte er noch an Laura denken können, wenn er Stefanie im Arm hielt! Sie war das erste Mädchen, um das er sich wirklich hatte bemühen müssen. Das war eine gänzlich neue Erfahrung für ihn gewesen, liefen ihm die Mädchen üblicherweise doch, sehr zum Missfallen seiner Kumpels, in Scharen nach. Wochenlang hatte er um Stefanie geworben, bis sie ihn endlich erhört hatte. Die folgenden vier Wochen waren die glücklichsten seines Lebens gewesen – bis zur Ernüchterung am 6. September. Stefanie war zur Miss Kerb gekürt worden, ein alberner Titel, auf den eigentlich seit Jahren Laura abonniert gewesen war. Diesmal hatte Stefanie sie ausgestochen. Er hatte mit Nathalie und ein paar anderen am Getränkeausschank im Zelt gearbeitet und beobachten müssen, wie Stefanie mit anderen Typen flirtete, bis sie plötzlich verschwunden war. Vielleicht hatte er da schon mehr getrunken als gut für ihn war. Nathalie hatte gemerkt, wie sehr er litt. Geh sie schon suchen, hatte sie zum ihm gesagt. Er war aus dem Zelt gerannt. Lange hatte er nicht suchen müssen, und als er sie gefunden hatte, war die Eifersucht wie eine Bombe in seinem Innern explodiert. Wie hatte sie ihm das antun, ihn so vor allen Leuten kränken und verletzen können? Alles nur wegen dieser dämlichen Hauptrolle in dem noch dämlicheren Theaterstück? Tobias warf die Decke zurück und sprang auf. Er musste etwas tun, arbeiten, sich irgendwie ablenken von diesen quälenden Erinnerungen.
Amelie ging mit gesenktem Kopf durch den feinen Nieselregen. Das Angebot ihrer Stiefmutter, sie zur Bushaltestelle zu fahren, hatte sie wie jeden Morgen abgelehnt, aber nun musste sie sich sputen, wenn sie den Schulbus nicht verpassen wollte. Der November zeigte sich von seiner unfreundlichsten Seite, neblig und regnerisch, aber Amelie hatte etwas für die düstere Trostlosigkeit dieses Monats übrig. Sie mochte den einsamen Fußmarsch durch das schlafende Dorf. Über die Ohrstöpsel ihres iPod dröhnte trommelfellzerfetzend laut Musik von den ›Schattenkindern‹, einer ihrer bevorzugten Dark-Wave-Gruppen. Die halbe Nacht hatte sie wach gelegen und über Tobias Sartorius und die ermordeten Mädchen nachgedacht. Laura Wagner und Stefanie Schneeberger waren damals siebzehn Jahre alt gewesen, genauso alt, wie sie jetzt war. Und sie wohnte ausgerechnet in dem Haus, in dem früher einmal eines der Mordopfer gelebt haben sollte. Sie musste unbedingt mehr über das Mädchen erfahren, das Thies »Schneewittchen« genannt hatte. Was war damals in Altenhain vorgefallen?
Ein Auto bremste neben ihr. Sicher ihre Stiefmutter, die sie mit enervierender Freundlichkeit an den Rand des Wahnsinns zu treiben vermochte. Aber dann erkannte Amelie Claudius Terlinden, den Chef ihres Vaters. Er hatte das Seitenfenster auf der Beifahrerseite heruntergelassen und machte ihr ein Zeichen, näher zu kommen. Amelie schaltete die Musik aus.
»Soll ich dich mitnehmen?«, fragte er. »Du wirst ja ganz nass!«
Der Regen störte Amelie eigentlich nicht, aber sie fuhr gerne in Terlindens Auto mit. Sie mochte den fetten, schwarzen Mercedes mit den hellen Ledersitzen, er roch noch ganz neu, und sie war fasziniert von den technischen Raffinessen, die Claudius Terlinden ihr nur zu gerne vorführte. Aus unerfindlichen Gründen konnte sie den Nachbarn gut leiden, obwohl er mit seinen teuren Anzügen, den dicken Autos und seiner protzigen Villa eigentlich der Prototyp des
Weitere Kostenlose Bücher