Schneewittchen muss sterben
oberhalb des schmalen Kellerfensters, das von außen mit irgendetwas verschlossen war. So konnte sie wenigstens bestimmen, ob es Tag war oder Nacht. Die beiden Kerzen waren längst heruntergebrannt, aber sie wusste, was sich in dem Kasten im Regal befand. Vier Flaschen Wasser waren noch übrig, sie musste sparsam damit umgehen, denn sie hatte ja keine Ahnung, wie lange es reichen musste. Die Kekse wurden ebenfalls langsam knapp, ebenso wie die Dosenwurst und die Schokolade. Mehr gab es nicht. Wenigstens würde sie hier ein paar Kilo abnehmen, wo immer sie hier auch war.
Die meiste Zeit war sie müde, so müde, dass sie einfach einschlief, ohne sich dagegen wehren zu können. War sie wach, überkam sie manchmal tiefe Verzweiflung, dann trommelte sie mit den Fäusten gegen die Tür, weinte und schrie um Hilfe. Danach verfiel sie wieder in melancholische Gleichgültigkeit, lag stundenlang auf der stinkenden Matratze und versuchte, sich das Leben draußen vorzustellen, die Gesichter von Thies und von Tobias. Sie sagte auswendig Gedichte auf, an die sie sich erinnerte, sie machte Liegestützen und Tai-Chi-Chuan-Übungen – gar nicht einfach, in der Dunkelheit das Gleichgewicht zu halten – oder sang lauthals alle Lieder, die sie kannte, nur um nicht verrückt zu werden in diesem feuchten Verlies. Irgendwann würde jemand kommen und sie hier rausholen. Ganz sicher. Sie glaubte fest daran. Es fühlte sich einfach nicht so an, als ob der liebe Gott sie jetzt, noch vor ihrem achtzehnten Geburtstag, sterben lassen würde. Amelie rollte sich auf der Matratze zusammen und starrte in die Dunkelheit. Eines der letzten Stückchen Schokolade schmolz auf ihrer Zunge. Kauen und einfach runterschlucken wäre purer Frevel. Eine bleierne Müdigkeit kroch langsam in ihr hoch, saugte ihre Erinnerungen und Gedanken in ein schwarzes Loch. Immer und immer wieder grübelte sie darüber nach, was eigentlich passiert war. Wie war sie an diesen schrecklichen Ort gekommen? Das Letzte, an das sie sich erinnern konnte, war, dass sie verzweifelt versucht hatte, Tobias zu erreichen. Aber weshalb, das wollte ihr einfach nicht mehr einfallen.
Pia fuhr erschrocken zusammen, als Tobias Sartorius die Augen aufschlug. Er bewegte sich nicht, blickte sie nur stumm an. Die Blutergüsse in seinem Gesicht waren verblasst, aber er sah krank und müde aus.
»Was ist passiert?«, fragte Pia und steckte ihre Waffe wieder weg. »Wo sind Sie die ganze Zeit gewesen?«
Tobias antwortete nicht. Unter seinen Augen lagen tiefe Schatten, er hatte stark abgenommen, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatten. Mühsam, als ob es seine ganze Kraft erforderte, hob er einen Arm und hielt ihr ein zusammengefaltetes Blatt Papier hin.
»Was ist das?«
Er sagte kein Wort, deshalb nahm sie das Blatt aus seiner Hand, faltete es auseinander. Bodenstein trat neben sie, gleichzeitig lasen sie die handschriftlichen Zeilen.
Tobi, sicherlich wirst du dich wundern, dass ich dir nach so langer Zeit schreibe. In den letzten elf Jahren ist kein Tag vergangen, an dem ich nicht an dich gedacht und mich
schuldig gefühlt hätte. Du hast meine Strafe abgesessen, und ich habe es zugelassen. Ich bin zur Karikatur eines Menschen geworden, wie ich ihn zutiefst verachte. Ich diene nicht Gott, so, wie ich das immer wollte, ich bin Sklave eines Götzen geworden. Elf Jahre lang bin ich weggerannt, habe mich gezwungen, mich nicht nach Sodom und Gomorrha umzusehen. Aber jetzt blicke ich zurück. Meine Flucht ist vorbei. Ich bin gescheitert. Ich habe alles verraten, was mir früher etwas bedeutet hat, ich habe einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, als ich auf Anraten meines Vaters das erste Mal gelogen habe. Ich habe dich, meinen besten Freund, verraten und verkauft. Der Preis dafür waren unendliche Qualen. Jedes Mal wenn ich mein Gesicht im Spiegel gesehen habe, habe ich dich vor mir gesehen. Was für ein Feigling war ich! Ich habe Laura getötet. Nicht mit Absicht, es war ein dummer Unfall, aber sie war tot. Ich habe auf meinen Vater gehört und geschwiegen, selbst dann noch, als klar war, dass man dich verurteilen würde. Ich bin damals in eine falsche Richtung abgebogen, die mich direkt in die Hölle geführt hat. Ich war seitdem nie mehr glücklich. Verzeih mir, Tobi, wenn du kannst. Ich kann mir nicht verzeihen. Möge Gott mich richten. Lars
Pia ließ den Brief sinken. Lars Terlinden hatte seinen Abschiedsbrief auf den Vortag datiert und das Geschäftspapier der Bank benutzt, bei der er
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