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Schneewittchen muss sterben

Schneewittchen muss sterben

Titel: Schneewittchen muss sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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elf Jahre lang geschwiegen. Warum hatten sie sich jetzt plötzlich dazu entschieden, ehrlich zu sein? Warum erst jetzt? Die Enttäuschung war grenzenlos, abgrundtief. Noch vor ein paar Tagen hatten sie mit ihm getrunken, gelacht und Erinnerungen an früher ausgetauscht – und dabei die ganze Zeit gewusst, was sie getan, was sie
ihm
angetan hatten! Er stieß einen tiefen Seufzer aus. Nadja ergriff seine Hand, drückte sie. Tobias öffnete die Augen.
    »Ich kann gar nicht glauben, dass Lars tot ist«, flüsterte er, räusperte sich mehrmals, um den Frosch in seinem Hals loszuwerden.
    »Es ist alles völlig unfassbar«, bestätigte sie. »Aber ich habe immer daran geglaubt, dass du unschuldig bist.«
    Er rang sich ein Lächeln ab. Unter all den Enttäuschungen, der Bitterkeit und dem Zorn keimte ein winziges Pflänzchen der Hoffnung. Vielleicht würde ja doch alles gut werden, mit Nadja und ihm. Vielleicht hatten sie beide eine Chance, wenn die Schatten der Vergangenheit erst vertrieben und die ganze Wahrheit ans Licht gekommen war.
    »Ich kriege Ärger mit den Bullen«, sagte er.
    »Ach was«, sie zwinkerte ihm zu. »Du bist ja in ein paar Tagen zurück. Und dein Vater hat meine Handynummer, für alle Fälle. Es wird wohl jeder verstehen, dass du jetzt ein bisschen Abstand brauchst.«
    Tobias nickte. Er entspannte sich etwas. Der allgegenwärtige, nagende Schmerz in seinem Innern wurde schwächer.
    »Ich bin so froh, dass du da bist«, sagte er zu Nadja. »Wirklich. Du bist einfach wunderbar.«
    Sie lächelte wieder, hielt den Blick aber auf die Straße gerichtet.
    »Wir sind füreinander bestimmt, du und ich«, antwortete sie. »Das habe ich immer gewusst.«
    Tobias führte ihre Hand an seine Lippen und küsste sie zärtlich. Vor ihnen lagen ein paar Tage Ruhe. Nadja hatte alle ihre Termine abgesagt. Niemand würde sie stören, er musste sich vor niemandem fürchten. Die leise Musik, die angenehme Wärme, die weichen Lederpolster. Er spürte, wie ihn die Müdigkeit übermannte. Mit einem Seufzer schloss er die Augen und war wenig später tief und fest eingeschlafen.
    Die rostige Eisentreppe war schmal und führte steil nach unten. Er tastete an der Wand nach dem Lichtschalter. Sekunden später tauchte die 25-Watt-Birne den kleinen Raum in schummeriges Licht. Bodenstein spürte seinen Herzschlag bis in den Hals. Es hatte Stunden gedauert, bis die Ruine endlich so weit gesichert war, dass man sie gefahrlos betreten konnte. Der Bagger vom THW hatte den Schutt beiseitegeschoben, mit vereinten Kräften hatten die Männer die stählerne Falltür geöffnet. Einer der Männer in einem Schutzanzug war die Treppe hinuntergeklettert und hatte festgestellt, dass unten alles in Ordnung war. Der Keller hatte den Brand unbeschadet überstanden.
    Bodenstein wartete, bis Pia, Kröger und Henning Kirchhoff den steilen Abstieg geschafft hatten und neben ihm in dem winzigen Raum standen. Er legte seine Hand auf die Klinke der schweren, eisernen Tür. Die schwang lautlos auf. Warme Luft drang ihnen entgegen, es roch süßlich nach verwelkten Blumen.
    »Amelie?«, rief Bodenstein. Eine Taschenlampe hinter ihm flammte auf, leuchtete in einen erstaunlich großen, rechteckigen Raum.
    »Ein ehemaliger Bunker«, stellte Kröger fest. Es klickte, als er den Lichtschalter betätigte, eine Neonröhre an der Decke sprang flackernd und summend an. »Die Stromleitungen sind separat verlegt, damit im Fall einer Beschädigung des Gebäudes der Keller weiterhin versorgt wird.«
    Der Kellerraum war schlicht eingerichtet: ein Sofa, ein Regal mit einer Stereoanlage. Der hintere Teil des Raumes war mit einer altmodischen spanischen Wand abgeteilt. Von Amelie keine Spur. Waren sie zu spät? »Puh«, murmelte Kröger. »Ist das eine Hitze hier drin.«
    Bodenstein ging quer durch den Raum. Der Schweiß lief ihm über das Gesicht.
    »Amelie?«
    Er rückte die spanische Wand beiseite. Sein Blick fiel auf das schmale, eiserne Bett. Er musste schlucken. Das Mädchen, das dort lag, war tot. Ihr langes, schwarzes Haar war wie ein Fächer auf dem weißen Kopfkissen ausgebreitet. Sie trug ein weißes Kleid, die Hände gefaltet über dem Bauch. Der rote Lippenstift wirkte grotesk auf den vertrockneten Lippen der Mumie. Ein Paar Schuhe stand neben dem Bett. Verwelkte Blumen in einer Vase auf dem Nachttisch, daneben eine Flasche Cola. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er begriff, dass es sich bei dem Mädchen auf dem Bett nicht um Amelie handeln

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