Schneewittchen muss sterben
Eschborn.«
Andrea Wagner stieß einen tiefen Seufzer aus. »Endlich.«
In diesem einen Wort lag so viel Erleichterung, wie sie es mit zehn Sätzen nicht hätte ausdrücken können. Wie viele Tage und Nächte des vergeblichen Hoffens und verzweifelten Bangens lagen hinter diesen beiden Menschen? Wie musste es sein, ständig von den Gespenstern der Vergangenheit verfolgt zu werden? Die Eltern des anderen Mädchens waren weggezogen, aber Wagners hatten den Betrieb, ihre Existenzgrundlage, nicht aufgeben können. Sie hatten bleiben müssen, während ihre Hoffnung auf eine Rückkehr der Tochter immer geringer wurde. Elf Jahre Ungewissheit mussten die Hölle gewesen sein. Vielleicht würde es helfen, wenn sie ihre Tochter nun beerdigen und von ihr Abschied nehmen konnten.
»Nein, lass«, wehrte Amelie ab. »Ist nicht so tragisch. Gibt 'n blauen Fleck, mehr nicht.«
Sie würde sich ganz sicher nicht ausziehen und Tobias die Stelle zeigen, wo dieser eine Penner sie mit dem Schuh erwischt hatte. Es war ihr ohnehin schon peinlich genug, so dreckig und hässlich vor ihm zu sitzen.
»Aber die Platzwunde sollte besser genäht werden.«
»Quatsch. Das wird schon wieder.«
Tobias hatte sie angestarrt wie einen Geist, als sie um kurz nach halb acht vor der Haustür gestanden hatte, blutverschmiert und schmutzig, und ihm erzählte, dass sie soeben von zwei maskierten Männern überfallen worden war, draußen, auf seinem Hof! Er hatte sie auf einen Küchenstuhl gesetzt und ihr vorsichtig das Blut aus dem Gesicht getupft. Das Nasenbluten hatte aufgehört, aber der Riss über ihrer Augenbraue, dessen Ränder er nur mit zwei Pflastern notdürftig zusammengeklebt hatte, würde wieder zu bluten anfangen.
»Du machst das echt gut.« Amelie grinste schief und zog an der Zigarette. Sie fühlte sich zittrig, ihr Herz klopfte, und das hatte nichts mit dem Überfall zu tun, sondern mit Tobias. Aus der Nähe und bei Tageslicht betrachtet, sah er noch viel besser aus, als sie zuerst angenommen hatte. Die Berührung seiner Hände elektrisierte sie, und wie er sie immer wieder aus seinen unglaublich blauen Augen anblickte, so besorgt und nachdenklich – das war fast zu viel für ihre Nerven. Kein Wunder, dass früher alle Mädchen in Altenhain hinter ihm her gewesen waren!
»Ich frag mich, was die hier gewollt haben«, überlegte sie, während Tobias sich an der Kaffeemaschine zu schaffen machte. Sie blickte sich neugierig um. In diesem Haus waren also die zwei Mädchen ermordet worden, Schneewittchen und Laura.
»Wahrscheinlich haben sie auf mich gewartet, und du bist ihnen in die Quere gekommen«, erwiderte er. Er stellte zwei Tassen auf den Tisch, dazu die Zuckerdose, und holte Milch aus dem Kühlschrank.
»Das sagst du so einfach! Hast du denn keine Angst?«
Tobias lehnte sich an die Arbeitsplatte und verschränkte die Arme vor der Brust. Mit schiefgelegtem Kopf sah er sie an. »Was soll ich denn machen? Mich verstecken? Weglaufen? Den Gefallen tue ich ihnen nicht.«
»Weißt du denn, wer das gewesen sein könnte?«
»Nicht genau. Aber ich kann es mir schon denken.«
Amelie spürte, wie ihr unter seinem Blick heiß wurde. Was war bloß los? So etwas war ihr noch nie passiert! Sie traute sich kaum, ihm in die Augen zu sehen, am Ende merkte er noch, was für ein Gefühlschaos er in ihrem Inneren auslöste. Die Kaffeemaschine gab ungesunde, röchelnde Töne von sich und stieß Dampfschwaden aus.
»Die müsste mal wieder entkalkt werden«, stellte sie fest. Ein jähes Lächeln erhellte sein düsteres Gesicht und veränderte es auf eine unglaubliche Weise. Amelie starrte ihn an. Plötzlich verspürte sie das unsinnige Verlangen, ihn zu beschützen, ihm zu helfen.
»Die Kaffeemaschine hat nicht unbedingt die oberste Priorität.« Er grinste. »Erst muss ich draußen aufräumen.«
Im gleichen Moment schrillte die Klingel der Haustür. Tobias trat ans Fenster, das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht.
»Schon wieder die Bullen«, sagte er mit plötzlicher Anspannung. »Verschwinde besser. Ich will nicht, dass man dich hier sieht.«
Sie nickte und stand auf. Er führte sie durch die Diele und wies auf eine Tür.
»Da geht es durch die Milchküche in den Stall. Schaffst du das alleine?«
»Klar. Ich hab keine Angst. Jetzt, wo es hell ist, werden die Kerle kaum noch draußen rumlungern«, erwiderte sie betont cool. Sie blickten sich an, Amelie senkte die Augen.
»Danke«, sagte Tobias leise. »Du bist ein mutiges
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