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Schneewittchen muss sterben

Schneewittchen muss sterben

Titel: Schneewittchen muss sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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wenn man bedachte, wie sehr ihn die Abgründe der Beziehungen anderer Menschen faszinierten, mit denen sie tagtäglich konfrontiert wurden. Im Gegensatz zu Pia ließ er sich nur sehr selten emotional in einen Fall verwickeln, er wahrte eine innerliche Distanz, die sie für ziemlich selbstgerecht hielt. Glaubte er, ihm könne so etwas nicht widerfahren und er sei über so etwas Profanes wie Eheprobleme erhaben? Dachte er wirklich, Cosima sei damit zufrieden, mit einem kleinen Kind zu Hause herumzusitzen und auf ihn zu warten? Sie war ein ganz anderes Leben gewohnt.
    »Wenn sie sich mit jemandem trifft und mir erzählt, sie sei ganz woanders gewesen?«, hielt er nun dagegen. »Das ist nicht harmlos. Was soll ich nur machen?«
    Pia antwortete nicht sofort. Sie in seiner Situation hätte alles darangesetzt, die Wahrheit zu erfahren. Wahrscheinlich hätte sie ihren Partner sofort zur Rede gestellt, mit Geschrei und Tränen und Vorwürfen. Unmöglich, einfach so zu tun, als sei nichts.
    »Frag sie doch einfach«, schlug sie deshalb vor. »Sie wird dir wohl kaum ins Gesicht lügen.«
    »Nein«, antwortete er entschieden. Pia seufzte innerlich. Oliver von Bodenstein tickte eben anders als normale Menschen. Vielleicht würde er sogar, nur um den Schein zu wahren und seine Familie zu schützen, einen möglichen Nebenbuhler akzeptieren und still leiden. Im Fach Selbstbeherrschung hatte er eine Eins mit Sternchen verdient.
    »Hast du dir die Handynummer aufgeschrieben?«
    »Ja.«
    »Gib sie mir. Ich rufe dort an. Mit unterdrückter Nummer.«
    »Nein, lieber nicht.«
    »Willst du nicht die Wahrheit wissen?«
    Bodenstein zögerte.
    »Hör mal«, sagte Pia. »Es frisst dich doch auf, wenn du nicht weißt, woran du bist.«
    »Verdammt!«, fuhr er auf. »Ich wünschte, ich hätte sie nicht gesehen! Ich wünschte, ich hätte sie nicht angerufen!«
    »Hast du aber. Und sie hat gelogen.«
    Bodenstein holte tief Luft und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. Selten hatte Pia ihren Chef so ratlos gesehen, nicht einmal als er herausgefunden hatte, dass die Tochter von Vera Kaltensee ihn unter Drogen gesetzt und zu sexuellen Handlungen genötigt hatte, um ihn erpressbar zu machen. Diese Sache hier ging ihm viel mehr an die Nieren.
    »Was mache ich, wenn ich herausfinde, dass sie … dass sie mich betrügt?«
    »Du hast schon mal völlig falsche Schlüsse aus ihrem Verhalten gezogen«, erinnerte Pia ihn besänftigend.
    »Diesmal ist es anders«, sagte er. »Würdest du die Wahrheit wissen wollen, wenn du den Verdacht hättest, dass du betrogen wirst?«
    »Aber hundertprozentig.«
    »Und wenn …«, er brach ab. Pia sagte nichts. Sie hatten die Schreinerei von Manfred Wagner im Gewerbegebiet von Altenhain erreicht. Männer, dachte sie. Alle gleich. Kein Problem, im Job eine Entscheidung zu fällen. Aber sobald es um die Beziehung ging und Gefühle ins Spiel kamen, waren sie alle verdammte Feiglinge.
    Amelie wartete, bis ihre Stiefmutter das Haus verlassen hatte. Barbara hatte ihr, ohne zu zögern, geglaubt, dass heute die erste Stunde ausfallen würde. Amelie grinste vor sich hin. Diese Frau war so was von gutgläubig, dass es schon langweilig war, sie zu belügen. Ganz anders als ihre misstrauische Mutter. Die glaubte ihr prinzipiell kein Wort, daher hatte Amelie es sich zur Gewohnheit gemacht, sie anzulügen. Oft schluckte sie die Lügen eher als die Wahrheit.
    Amelie wartete, bis Barbara mit den beiden Kleinen in ihrem roten Mini davongebrummt war, dann schlüpfte sie aus der Haustür und rannte zum Hof der Sartorius. Es war noch dunkel und kein Mensch auf der Straße unterwegs, auch von Thies war weit und breit nichts zu sehen. Ihr Herz klopfte, als sie über den düsteren Hof schlich, vorbei an der Scheune und dem langgestreckten Stallgebäude, in dem schon lange keine Tiere mehr lebten. Sie hielt sich dicht an der Mauer, bog um die Ecke und bekam vor Schreck fast einen Herzinfarkt, als plötzlich zwei Gestalten mit vermummten Gesichtern vor ihr standen. Bevor sie schreien konnte, packte sie der eine und presste seine Hand auf ihren Mund. Brutal drehte er ihr die Arme auf den Rücken und stieß sie gegen die Mauer. Der Schmerz war so heftig, dass ihr die Luft wegblieb. Was fiel dem Kerl ein, ihr so weh zu tun? Und was hatten diese Typen hier morgens um halb acht zu suchen? Amelie hatte schon manch bedrohliche Situation in ihrem Leben gemeistert, und auch jetzt empfand sie nach dem ersten Schreck keine Angst, sondern Zorn. Verbissen

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