Schneewittchen muss sterben
Berichts, hörten aber geduldig zu, bis ihre oberste Chefin ihren Vortrag beendet hatte. Ob sich Frau Dr. Engel in ihrem Job langweilte und sich deshalb ständig in die Arbeit des K11einmischte? Ihr Vorgänger, Dr. Nierhoff, war alle Jubeljahre mal aufgetaucht, meist nur dann, wenn es einen richtig spektakulären Fall aufzuklären galt.
»Ich frage mich nur«, sagte Pia, als Dr. Engel geendet hatte, »wie Tobias Sartorius innerhalb einer knappen Dreiviertelstunde von Altenhain nach Eschborn gefahren, in ein gesichertes und abgesperrtes Militärgelände eingedrungen und die Leiche in einen Erdtank geworfen haben soll.«
In der Runde war es still; alle bis auf Bodenstein sahen sie an.
»Sartorius hat die beiden Mädchen angeblich im Haus seiner Eltern ermordet«, erläuterte Pia. »Er wurde von den Nachbarn beobachtet, als er erst mit Laura Wagner das Haus betreten hat und später, als er Stefanie Schneeberger die Tür geöffnet hat. Das nächste Mal wurde er von seinen Freunden gegen Mitternacht gesehen, als die ihn abholen wollten.«
»Was wollen Sie damit sagen?«, wollte Dr. Engel wissen.
»Dass Tobias Sartorius möglicherweise nicht der Täter gewesen ist.«
»Natürlich war er's«, widersprach Hasse sofort. »Hast du vergessen, dass er verurteilt wurde?«
»In einem reinen Indizienprozess. Und ich bin beim Studium der Akten auf einige Ungereimtheiten gestoßen. Um Viertel vor elf hat der Nachbar beobachtet, wie Stefanie Schneeberger zu Tobias Sartorius ins Haus gegangen ist, und eine halbe Stunde später wurde sein Auto von zwei Zeugen in Altenhain gesehen.«
»Ja«, sagte Hasse. »Er hat die Mädchen getötet, sich in sein Auto gesetzt und die beiden Leichen weggeschafft. Das alles wurde nachgestellt.«
»Damals ging man davon aus, dass er die Leichen in der Nähe abgelegt hatte. Heute wissen wir, dass das nicht der Fall war. Und wie ist er auf das abgesperrte Militärgelände gelangt?«
»Die jungen Leute haben dort immer wieder heimlich gefeiert. Sie kannten irgendeinen geheimen Zugang.«
»Das ist doch Unsinn.« Pia schüttelte den Kopf. »Wie soll denn ein angetrunkener Mann so etwas alleine fertigbringen? Und was hat er mit der zweiten Leiche gemacht? Die haben wir nicht in dem Tank gefunden! Ich sage euch, das Zeitfenster ist viel zu knapp!«
»Frau Kirchhoff«, mahnte Dr. Engel. »Wir ermitteln hier nicht. Der Täter wurde seinerzeit gefasst, überführt, verurteilt und hat seine Strafe abgesessen. Fahren Sie zu den Eltern des Mädchens, teilen Sie ihnen mit, dass die sterblichen Überreste ihrer Tochter gefunden wurden, und basta.«
»Und basta!«, äffte Pia ihre Chefin nach. »Ich denke gar nicht daran, das einfach auf sich beruhen zu lassen. Es ist offensichtlich, dass damals schlampig ermittelt wurde und die Schlussfolgerungen absolut willkürlich waren. Und ich frage mich, warum!«
Bodenstein, der ihr das Steuer überlassen hatte, erwiderte nichts. Er hatte seine langen Beine in dem unbequem engen Dienst-Opel gefaltet, die Augen geschlossen und die ganze Fahrt über keinen Ton gesagt.
»Sag mal, was ist eigentlich los mit dir, Oliver?«, fragte Pia schließlich leicht verärgert. »Ich hab keine Lust, den ganzen Tag mit jemandem herumzufahren, der so gesprächig ist wie eine Leiche!«
Bodenstein öffnete ein Auge und seufzte. »Cosima hat mich gestern angelogen.«
Aha. Ein familiäres Problem. Wie vermutet.
»Und? Wer hat nicht schon einmal gelogen?«
»Ich.« Bodenstein öffnete auch das zweite Auge. »Ich habe Cosima noch nie angelogen. Selbst die Sache mit der Kaltensee damals habe ich ihr gesagt.«
Er räusperte sich, dann erzählte er Pia, was gestern geschehen war. Sie hörte mit wachsendem Unbehagen zu. Das klang allerdings ernst. Doch sogar in dieser Situation bereitete ihm sein aristokratisches Ehrgefühl ein schlechtes Gewissen, weil er im Handy seiner Frau heimlich nach Beweisen gesucht hatte.
»Es kann für alles eine ganz harmlose Erklärung geben«, erwiderte Pia, obwohl sie nicht daran glaubte. Cosima von Bodenstein war eine schöne, temperamentvolle Frau, die durch ihren Job als Filmproduzentin selbständig und finanziell unabhängig war. In der letzten Zeit hatte es des Öfteren kleinere Reibereien zwischen ihr und Bodenstein gegeben, das hatte Pia mitbekommen, aber ihr Chef schien dem keine große Bedeutung beigemessen zu haben. Typisch für ihn, dass er jetzt wie vor den Kopf geschlagen war. Er lebte in einem Elfenbeinturm. Und das war umso erstaunlicher,
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