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Schneewittchen muss sterben

Schneewittchen muss sterben

Titel: Schneewittchen muss sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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kämpfte sie gegen die eiserne Umklammerung, sie trat um sich und versuchte, ihrem Angreifer die Maske mit den Augenschlitzen vom Kopf zu ziehen. Mit der Kraft der Verzweiflung gelang es ihr, den Mund freizubekommen. Sie sah ein Stück Haut direkt vor ihren Augen, eine bloße Stelle zwischen Handschuh und Jackenärmel, und biss zu, so kräftig sie konnte. Der Mann stieß einen unterdrückten Schmerzensschrei aus und stieß Amelie zu Boden. Weder er noch sein Kumpan hatten mit einer so heftigen Gegenwehr gerechnet, sie keuchten vor Anstrengung und Zorn. Schließlich versetzte der zweite Mann Amelie einen Tritt in die Rippen, der ihr den Atem nahm. Dann schlug er ihr mit der Faust ins Gesicht. Amelie sah nur noch Sternchen, und ihr Instinkt schrie ihr zu, besser liegen zu bleiben und die Klappe zu halten. Schritte entfernten sich eilig, dann war es ganz still, bis auf ihren eigenen heftigen Atem.
    »Scheiße«, fluchte sie und versuchte mühsam, sich aufzurichten. Ihre Klamotten waren klatschnass und dreckig. Blut lief ihr warm über das Kinn und tropfte auf ihre Hände. Diese Mistkerle hatten ihr richtig weh getan.
    Die Schreinerei Wagner und das angebaute Wohnhaus vermittelten den Eindruck, als sei mitten im Bau das Geld knapp geworden. Unverputzte Mauern, der Hof halb gepflastert, halb asphaltiert, voller Schlaglöcher – hier sah es nicht weniger deprimierend aus als auf dem Hof von Sartorius. Überall stapelten sich Holzbohlen und Bretter, manche waren schon von Moos bedeckt und sahen aus, als lägen sie seit Jahren hier. In Plastik eingeschweißte Türen lehnten an der Wand der Werkstatt, alles war schmutzig.
    Pia klingelte an der Haustür des Wohnhauses, dann an der Tür mit der Aufschrift Büro, aber nichts tat sich. Im Innern des Werkstattgebäudes brannte Licht, also drückte sie das Metalltor auf und ging hinein. Bodenstein folgte ihr. Es roch nach frischem Holz.
    »Hallo?«, rief sie. Sie gingen quer durch die Werkstatt, die ein einziges Durcheinander war, und fanden hinter einem Bretterstapel einen jungen Mann, der Ohrstöpsel in den Ohren hatte und mit dem Kopf im Takt der Musik nickte. Er war damit beschäftigt, mit einer Hand irgendetwas zu lackieren, hatte dabei aber eine Zigarette im Mund. Als Bodenstein ihm auf die Schulter klopfte, fuhr er herum. Er zerrte die Ohrstöpsel aus den Ohren und machte ein schuldbewusstes Gesicht.
    »Machen Sie die Zigarette aus«, sagte Pia zu ihm, und er gehorchte sofort. »Wir suchen Herrn oder Frau Wagner. Sind die hier irgendwo?«
    »Im Büro drüben«, sagte der Junge. »Glaub ich zumindest.«
    »Danke.« Pia sparte sich den Hinweis auf Brandschutzverordnungen und machte sich auf die Suche nach dem Chef, dem alles egal zu sein schien. Sie fanden Manfred Wagner in einem winzigen, fensterlosen Büro, das so vollgestopft war, dass man sich kaum zu dritt darin aufhalten konnte. Der Mann hatte den Hörer neben das Telefon gelegt und las die BILD-Zeitung. Auf Kundschaft legte man hier offenbar keinen großen Wert. Als Bodenstein nun an die geöffnete Tür klopfte, um sich bemerkbar zu machen, blickte er unwillig von seiner Lektüre auf.
    »Ja?« Er war ungefähr Mitte fünfzig und roch trotz der frühen Tageszeit nach Alkohol. Sein brauner Arbeitsoverall wirkte, als habe er seit Wochen keine Waschmaschine mehr von innen gesehen.
    »Herr Wagner?«, übernahm Pia. »Wir sind von der Kripo in Hofheim und möchten mit Ihnen und Ihrer Frau sprechen.«
    Er wurde leichenblass, starrte sie aus rotgeränderten, wässrigen Augen an wie ein Kaninchen die Schlange. Im gleichen Moment fuhr draußen ein Auto vor, eine Autotür fiel ins Schloss.
    »Da … da kommt … meine Frau«, stotterte Wagner. Andrea Wagner betrat die Werkstatt, ihre Absätze klapperten auf dem Betonfußboden. Sie hatte kurze, blondierte Haare und war sehr dünn. Früher einmal musste sie hübsch gewesen sein, aber jetzt sah sie verhärmt aus. Kummer, Verbitterung und die Ungewissheit über das Schicksal ihrer Tochter hatten tiefe Falten in ihr Gesicht gegraben.
    »Wir sind gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass man die sterblichen Überreste Ihrer Tochter Laura gefunden hat«, sagte Bodenstein, nachdem er sich Frau Wagner vorgestellt hatte. Einen Moment herrschte Schweigen. Manfred Wagner schluchzte auf. Eine Träne rann über seine unrasierte Wange, und er verbarg das Gesicht in den Händen. Seine Frau blieb ruhig und gefasst.
    »Wo?«, fragte sie nur.
    »Auf dem Gelände des alten Militärflughafens in

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