Schneewittchen muss sterben
wollte etwas Beschwichtigendes einwenden, aber Bodenstein kam ihr zuvor. »Natürlich.« Seine Stimme klang sarkastisch. »Sie sind ja unschuldig. Das kennen wir. Unsere Gefängnisse sind voll mit Unschuldigen.«
Tobias musterte ihn mit steinerner Miene. In seinen Augen flackerte mühsam unterdrückte Wut. »Ihr Bullen seid doch alle gleich – überheblich und selbstherrlich«, zischte er verächtlich. »Ihr habt doch keinen blassen Schimmer, was hier abgeht. Und jetzt verschwindet von hier! Lasst mich endlich in Ruhe!«
Bevor Pia oder Bodenstein noch etwas sagen konnten, knallte er ihnen die Haustür vor der Nase zu.
»Das hättest du nicht sagen sollen«, sagte Pia vorwurfsvoll, als sie zurück zum Auto gingen. »Jetzt hast du ihn richtig gegen uns aufgebracht, und wir wissen immer noch nicht mehr.«
»Ich hatte doch recht!« Bodenstein blieb stehen. »Hast du seine Augen gesehen? Der Kerl ist zu allem fähig, und falls er wirklich weiß, wer seine Mutter von der Brücke gestoßen hat, dann ist derjenige in Gefahr.«
»Du bist voreingenommen«, warf Pia ihm vor. »Er kommt nach über zehn Jahren Knast, in dem er möglicherweise wirklich zu Unrecht gesessen hat, nach Hause und muss feststellen, dass sich hier alles verändert hat. Seine Mutter wird angegriffen und schwer verletzt, Unbekannte aus dem Dorf beschmieren das Haus seiner Eltern. Ist es da ein Wunder, dass er wütend ist?«
»Ich bitte dich, Pia! Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass man den Kerl fälschlicherweise wegen Doppelmordes verurteilt hat!«
»Ich glaube gar nichts. Aber ich bin in den alten Fallakten auf Unstimmigkeiten gestoßen und habe so meine Zweifel bekommen.«
»Der Mann ist eiskalt. Und was die Reaktionen der Dörfler angeht, kann ich sie sogar verstehen.«
»Sag mal, du wirst doch nicht gutheißen, dass die Hauswände beschmieren und kollektiv einen Straftäter decken!« Pia schüttelte ungläubig den Kopf.
»Ich behaupte ja nicht, dass ich das gutheiße«, erwiderte Bodenstein. Sie standen unter dem Torbogen und zankten wie ein altes Ehepaar, dabei bemerkten sie nicht, wie Tobias Sartorius das Haus verließ und über den rückwärtigen Hof verschwand.
Andrea Wagner konnte nicht schlafen. Man hatte Lauras Leiche gefunden, oder eher das, was von ihr übrig war. Endlich, endlich war die Ungewissheit vorbei. Auf ein Wunder gehofft hatte sie schon lange nicht mehr. Zuerst hatte sie nichts als grenzenlose Erleichterung empfunden, aber dann war die Trauer gekommen. Elf Jahre lang hatte sie sich Tränen und Trauer verboten, hatte Stärke gezeigt und ihren Mann gestützt, der sich seinem Kummer um das verlorene Kind hemmungslos hingegeben hatte. Sie selbst hatte es sich nicht leisten können, zusammenzubrechen. Da war die Firma, die laufen musste, damit sie die Schulden bei der Bank bezahlen konnten. Und da waren ihre jüngeren Kinder, die ein Recht auf ihre Mutter hatten. Nichts war mehr so, wie es einmal gewesen war. Manfred hatte jede Energie und Lebensfreude verloren, war ihr ein Klotz am Bein geworden mit seinem weinerlichen Selbstmitleid und seiner Trunksucht. Manchmal verachtete sie ihn deswegen. Er machte es sich so leicht mit seinem Hass auf Tobias' Familie.
Andrea Wagner öffnete die Tür zu Lauras Zimmer, in dem seit elf Jahren nichts verändert worden war. Manfred bestand darauf, und sie akzeptierte es. Sie schaltete das Licht ein, nahm das Foto von Laura vom Schreibtisch und setzte sich auf das Bett. Vergeblich wartete sie auf die Tränen. Ihre Gedanken wanderten zu jenem Augenblick vor elf Jahren, als die Polizei vor der Haustür gestanden und ihr mitgeteilt hatte, dass man nach Auswertung der Spurenlage Tobias Sartorius für den Mörder ihrer Tochter halte.
Wieso Tobias?,
hatte sie verwirrt gedacht. Auf Anhieb waren ihr zehn andere eingefallen, die mehr Gründe gehabt hätten, sich an Laura zu rächen, als Tobias. Andrea Wagner hatte gewusst, was man im Dorf hinter vorgehaltener Hand über ihre Tochter redete. Als Flittchen hatte man sie bezeichnet, als berechnendes kleines Aas mit Drang nach Höherem. Während Manfred seine älteste Tochter abgöttisch und kritiklos liebte und für ihr Fehlverhalten immer eine Entschuldigung fand, so hatte Andrea auch Lauras Schwächen gesehen und gehofft, sie würden sich im Laufe der Jahre verwachsen. Dazu hatte das Mädchen keine Gelegenheit mehr bekommen. Seltsam eigentlich, dass sie sich im Zusammenhang mit Laura nur mit Mühe an schöne Ereignisse erinnern konnte. Viel
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