Schneewittchens Tod
vierzehn.«
Chib runzelte die Stirn: kein Name. Sicher Arbeit. Wie spät war es? Dreiundzwanzig Uhr. Er wählte die Nummer. Dreimal klingeln. Dann die Frau, ihre sehr ernste Stimme.
»Ja?«
»Hier ist Leonard Moreno, Sie haben mir auf Band gesprochen.«
»Ah, Monsieur Moreno, danke, dass Sie mich gleich zurückrufen. Man hat mir geraten, mich an Sie zu wenden; es geht um einen etwas sonderbaren Auftrag.«
»Ich höre«, antwortete Chib, sanft wie ein Priester, der sein Gegenüber zur Beichte ermuntert.
»Wir haben soeben unseren geliebten kleinen Engel verloren«, fuhr die Stimme mit einem leichten Beben fort, »unsere liebe kleine Elilou.«
»Tut mir Leid«, murmelte Chib, der sich fragte, ob es um eine Hündin ging.
»Aber nicht so wie uns«, entgegnete die Frau. »Das arme kleine Herzchen war eben erst acht Jahre alt.«
Schniefen. Verdammt, es ging doch wohl nicht um ein kleines Mädchen?
»Diese verdammte Treppe . entschuldigen Sie .«
Sie weinte jetzt leise, nicht zu unterdrückende Schluchzer. Chib, der auf seinem Futon hockte, kratzte sich unbehaglich das Schienbein.
»Wir müssten uns treffen«, fuhr die Frau fort, nachdem sie sich geschnäuzt hatte .
»Meine Adresse ist Boulevard Gazagnaire, Nummer hundertachtundzwanzig«, sagte er. »Sie können vorbeikommen, wann immer Sie wollen.«
»Mir wäre es lieber, wir würden uns in der Bar des Majestic treffen, wenn Ihnen das keine Umstände macht, morgen früh um zehn Uhr.«
Sie legte auf, ohne seine Antwort abzuwarten. Eine verzweifelte Frau, reich und daran gewöhnt, dass man ihr gehorcht, ohne zu diskutieren. Eine Kundin, die bereit ist, ein Maximum hinzublättern. Um ihre kleine Tochter einbalsamieren zu lassen.
KAPITEL 2
Wind war aufgekommen, ein kalter, schneidender Mistral, der das Meer mit weißen Schaumkronen versah. Chib schlug den Kragen seiner Jacke hoch und vergrub die Hände tief in den Taschen. In der glitzernden Sonne wirkte die Stadt, als hätte man sie mit Chlorwasser gescheuert - die Farben waren belebt, die Konturen sauber, wie gestochen.
Es war niemand auf der Terrasse des Majestic. Er trat in die Bar und suchte das Halbdunkel nach seiner zukünftigen Klientin ab. Sie musste um die fünfzig sein, eher von der noblen Sorte, sagte er sich. Drei Viertel seiner Kundschaft mit »sonderbaren« Aufträgen, rekrutierte sich aus dieser Kategorie. Leute in einem gewissen Alter, die über die entsprechenden Mittel verfügten und einen Hang zum Romantisch-Morbiden hatten.
Zwei kleine alte Damen, Croissantkrümel in den Mundwinkeln, plauderten munter und tranken dabei genussvoll ihren Tee. Ein Geschäftsmann im marineblauen Anzug, den Stöpsel seines Handys im linken Ohr, den »Organizer« in der rechten Hand, las Le Monde. Eine junge blonde Frau mit Rock und flaschengrüner Strickjacke schimpfte leise mit ihrer kleinen Tochter, die sich weigerte, ihre kalte Milch zu trinken und trotzig den Kopf schüttelte. Ein Touristenpärchen, ausstaffiert mit Karten und Fotoapparaten, stritt, über einen Führer gebeugt, miteinander.
Gut, sagte sich Chib, sie ist noch nicht da. Er bestellte einen starken Espresso und knackte mit den Fingergelenken. Er war nervös.
Der Kaffee war gut. Er trank ihn langsam und beobachtete den Raum dabei im Spiegel über dem Tresen. 10 Uhr 10. Würde sie kommen? Jemand berührte ihn an der Schulter; er fuhr herum und verschüttete dabei etwas Kaffee.
Die junge Frau in Grün musterte ihn mit ihren großen grauen mandelförmigen Augen. Etwa seine Größe, von aristokratischer Schlankheit, leicht gebeugt, Mitte dreißig. Feines, schmales Gesicht, hohe Wangenknochen, wohlgeformte Lippen. Sie hatte was von Vivian Leigh, dachte er bei sich.
»Monsieur Moreno?«, fragte sie mit dieser unglaublich tiefen Stimme, die überraschte bei einem so zierlichen Körper.
Chib murmelte »ähm … ja« und kletterte von seinem Barhocker.
Das kleine Mädchen, fünf oder sechs, saß in dem viel zu großen Ledersessel und spielte mit einem elektronischen Gameboy, den sie in alle Richtungen schüttelte. Die junge Frau machte Chib ein Zeichen, ihr zu folgen.
Sie nahmen Platz. Sie trank einen Schluck Perrier, bevor sie sprach.
»Ich bin Blanche Andrieu«, sagte sie. »Das ist Annabelle. Sag guten Tag, Anna.«
»Nein!«, knurrte Annabelle und kauerte sich noch tiefer in ihren Sessel. »Papa will nicht, dass wir mit den Goulou-Goulou sprechen.«
»Goulou-Goulou«, so wurden die Afrikaner genannt, die Glasschmuck am Strand verkauften.
Weitere Kostenlose Bücher