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Schneewittchens Tod

Schneewittchens Tod

Titel: Schneewittchens Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Aubert
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Vorgang.«
    Fasziniert beobachtete Gaelle den Priester. Er schien plötzlich von einer inneren Kraft beseelt, die seine kleinen grauen Augen leuchten ließ. Chib dachte bei sich, dass er auf einmal größer wirkte … mächtiger, ja, mächtiger, das war das richtige Wort …
    Schweigen breitete sich aus, und alle sahen sich an. Ein Schweigen, das plötzlich von einem Schrei zerrissen wurde.
    »Wo ist sie?«
    Blanche stand schwankend in der Tür und hielt sich mit einer Hand am Rahmen fest. Sie trug einen halb zugeknöpften Morgenrock aus weißem Satin, unter dem ein naturfarbenes Baumwollnachthemd hervorlugte. Das Haar hing ihr in die Augen. Der Bluterguss an ihrer Schläfe war dunkelblau geworden.
    »Wo ist meine Tochter?«
    »Blanche, mein Liebling .«
    »Warum hast du mir nichts gesagt? Warum?!«
    Sie kam einen Schritt auf sie zu, wäre fast gestürzt und hielt sich gerade noch an der Sessellehne fest.
    »Ich bin aufgewacht, ich habe von ihr geträumt, sie hat mich gerufen, sie wollte, dass ich komme, ihr war kalt, so kalt, verstehst du . Ich bin aufgestanden und in die Kapelle gegangen . Sie ist nicht da! Was hast du mit ihr gemacht? Mit welchem Recht?«
    »Blanche! Wir wissen nicht, wo sie ist. Jemand hat …«
    Andrieu verstummte, unfähig fortzufahren.
    »Jemand hat ihre Leiche gestohlen«, vollendete Dubois den Satz an seiner Stelle und ging zu ihr.
    Sie starrte ihn ungläubig an. Sie drehte sich zu ihrer Schwiegermutter um, dann zu Chib.
    »Das ist verrückt«, brachte sie mit belegter Stimme hervor, »vollkommen verrückt!«
    »Ihr Mann hat uns mit der Untersuchung beauftragt«, erklärte Gaelle. »Wir tun unser Möglichstes.« »Untersuchung? Aber sie friert, verstehen Sie das nicht? Man muss ihr einen Mantel bringen.«
    »Die Medikamente …«, erklärte Andrieu leise, »sie fantasiert. Sie muss wieder ins Bett.«
    »Ich kümmere mich darum.«
    Belle-Mamie legte den Arm um Blanche, die sich fieberhaft zur Wehr setzte.
    »Komm, mein Liebes, komm .«
    Sie gingen nahe an dem fassungslosen Chib vorbei. Blanche roch unbestreitbar nach Alkohol. Sie blickte ihn Hilfe suchend an, und er sah, wie ihre zitternde Hand zu einer Bewegung ansetzte, als wolle sie die seine ergreifen, nein, nicht jetzt! Dann ließ sie sie sinken, und die Schwiegermutter zog sie, undeutliche Worte des Trostes murmelnd, aus dem Zimmer.
    »Wir werden unsere Ermittlungen fortsetzen«, sagte Gaelle, an Jean-Hugues gewandt.
    »Sehr gut«, brummte dieser und sah den beiden sich entfernenden Frauen nach.
    Auch Chib und Gaelle verließen das Zimmer, während Dubois zu Andrieu sagte: »Wir müssen beten. Das Gebet ist Kraft. Das Gebet ist Hoffnung.«
    »Das Gebet ist ein Irrlicht«, gab Andrieu zurück. »Was, zum Teufel, haben all deine Gebete genutzt?!«
    »Ich glaube an Gott den Vater, den allmächtigen Schöpfer des Himmels und der Erde .«
    »Die haben wirklich alle eine Macke!«, kommentierte Gaelle, als sie ins Freie traten. »Man könnte meinen, alles Psychopathen für einen Horrorfilm aus den fünfziger Jahren.«
    »Stimmt, zu Anfang überrascht einen das«, pflichtete Chib ihr bei.
    »Und der Pfaffe! Der sollte lieber die Rolle des Satans übernehmen. Der macht mir richtig Angst. Und deine Blanche! Als wäre sie aus einer Klapsmühle ausgebrochen! Der arme Andrieu ist der Einzige, der halbwegs normal scheint.«
    »Blanche ist mit Beruhigungsmitteln voll gepumpt, sie hat gerade ihre Tochter verloren, da darf man doch wohl etwas wirr im Kopf sein, oder?!«
    Chib spürte, wie Zorn in ihm aufstieg.
    »Erzähl mir doch nicht, dass diese Frau nur wegen des Todes ihrer Tochter in diesem Zustand ist«, erwiderte Gaelle. »Bei der riecht man die chronische Neurose zehn Meter gegen den Wind. Und auch den Alkohol. Solche Leute habe ich massenweise in der Klinik gesehen.«
    Chib wandte sich ab, ohne zu antworten. Okay, Blanche war völlig ausgerastet, okay, sie war krank, und? Was wusste Gaelle schon vom Leben, die illusorischen Gewissheiten der Jugend ausgenommen?
    Er steuerte auf die Kapelle zu und hörte -warum, das wusste er selbst nicht - befriedigt, wie seine Sohlen auf dem Kies knirschten. Er war wütend auf die ganze Welt, eine Welt, die es zuließ, dass man kleine Mädchen vergewaltigt und tötet, dass man ihre Leiche stiehlt, eine Welt, die zuließ, dass der feige Chib Moreno nicht die geringste Geste gegenüber der Frau machte, in die er sich trotz ihrer Verzweiflung verliebt hatte, nur weil ihr Mann danebenstand und weil der Angsthase

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