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Schneller als der Tod

Schneller als der Tod

Titel: Schneller als der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josh Bazell
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tektonischen Platten weg, als ich in den Wald vorstieß.
    Fünfzig Meter drinnen gewöhnten meine Augen sich an das Halbdunkel. Lärm und Wind waren fort. Seltsame Riesenbäume, die ich nicht identifizieren konnte (aber das ginge mir auch bei einer Eiche so), streckten ihre Äste in alle Richtungen. In den niedrigsten verfingen sich meine Füße unter dem Schnee.
    Ich war so damit beschäftigt voranzukommen, dass ich die Raben erst bemerkte, als sich einer direkt vor meiner Nase auf einen Ast über mir setzte. Zwei andere saßen weiter oben und beobachteten mich. Ich lehnte mich in den Schnee zurück und starrte sie an. Es waren die größten Wildvögel, die ich je gesehen hatte. Nach einer Weile fingen sie an, sich wie Katzen zu putzen.
    Ich atmete die klare, schneidend kalte Luft und fragte mich, ob Raben so alt werden konnten wie Papageien, und wenn ja, ob diese schon im Zweiten Weltkrieg hier gewesen waren. Oder gar im Ersten. Ich fragte mich, ob meine Großeltern einmal welche gegessen hatten.
    Wenn nicht, wovon hatten sie dann gelebt? Wie schlug man sich in so einem Wald durch? Wie wusch man Wäsche, und erst recht, wie wehrte man die Nazis ab? Die Gegend hatte etwas vom Jenseits.
    Nach einiger Zeit kreischte einer der Raben, und alle drei flogen davon. Kurz daraufhörte ich Maschinenlärm.
    Das Naheliegende war, zur Straße zurückzukehren, da inzwischen auch der Schnee in meine Stiefel drang. Aber ich war neugierig - nicht nur, wo der Lärm herkam, interessierte mich, sondern auch, wie schnell man in diesen Wäldern vorankam, wenn man irgendwohin musste. Also folgte ich dem Lärm und drang tiefer in den Wald vor.
    Als der Lärm lauter wurde, kamen andere Maschinengeräusche hinzu. Bald erblickte ich Krantürme. Und wenig später purzelte ich durch einen weiteren Schneewall und kam in einer Lichtung auf die Füße.
    Es war eine Lichtung im Sinn von »unlängst gelichteter Wald«. Der Boden war auf einer Fläche von vielleicht hundert Morgen planiert, und Männer in Parkas und primärfarbenen Helmen setzten schweres Gerät ein, um weitere Bäume von den Rändern wegzuschaffen - sie umzusäbeln und in Längen zu schneiden, die per Kran auf Tieflader gehoben werden konnten. Schwarzer Qualm aus einem Dutzend Quellen verdreckte den sonst weißen Himmel.
    Ich versuchte mit einem der Arbeiter zu reden. Er sagte, glaube ich, er sei von
Veerk,
dem finnischen Holzfällerunternehmen, aber es war schwer zu entscheiden, da wir offenbar keine gemeinsame Sprache hatten, und so zuckten wir schließlich nur mit den Schultern und lachten, was bleibt einem anderes übrig?
    So spaßig war es aber gar nicht. Bialowieza ist das letzte Überbleibsel eines Waldes, der einmal achtzig Prozent von Europa bedeckt hat. Zu sehen, wie noch ein Stück davon abgeholzt wurde, war, als schaute man beim Abtragen des Nabels der Welt zu. Hier wurde ein Zugang zur Vergangenheit vernichtet - der meiner Großeltern, der von uns allen. Ein Zeichen dafür, dass wir einmal Menschen waren.
    Und ein weiteres Stück Geschichte löste sich in Dunst auf, einem Dunst, in dem man alles sehen konnte, was man wollte, oder auch nichts.

    Ich fuhr nach Lublin zurück und machte mich auf den Weg nach Süden, zum Hauptziel der Reise. Nahm im Ostblock-Express nach Krakau ein Schlafwagenabteil, etwas, das ich noch nie getan hatte und wohl nie wieder tun werde, wenn es auch gar nicht so übel war. Ich warf die Decke aus meinem Oberbett, da sie mit ungebührlich vielen Schamhaaren verwoben zu sein schien, legte mich im Mantel aufs Bettzeug und las im Licht der nackten Glühbirne über meinem Kopf.
    In Lublin hatte ich mir einen Stoß Bücher gekauft. Das Zeug aus der kommunistischen Zeit war lustig, aber banal.
    (»Besucher sind eingeladen, die Lenin-Stahlwerke, die Czyzyny-Zigarettenmanufaktur und die Bonarka-Künstdüngerfabrik zu besichtigen!«)
Die Sachen aus dem neuen Polen waren überwiegend dumm und ärgerlich, mit hundert und aberhundert Seiten über den heiligen Lech Walesa und nicht einem Wort darüber, dass er sich zum Teufel scheren sollte, weil er ein Hundsfott ist.*
(Meine liebste Lech-Walesa-Story hörte ich kurz vor dem Flug nach Polen. Als er merkte, dass sein Präsidentenstuhl wackelte, verbreitete Walesa, sein Gegenspieler sei ein verkappter Jude. Den Vorwurf der Bigotterie wies er mit den Worten von sich: »Aber nein, ich wünschte, ich wäre selber Jude. Dann hätte ich viel mehr Geld.« Scherzkeks!)
Und die Sachen, die zu stimmen schienen, waren

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