Schneller als der Tod
Nationalsozialisten »auf eine Überrepräsentation der Juden in Wirtschaft und Staat reagiert« haben - regen einen dann kaum noch auf. Obwohl das mit der »Überrepräsentation« eine sehr beliebte Judenhasserfloskel ist, denn jedes Mal, wenn jemand, wie im Zweiten Weltkrieg, die Hälfte aller Juden vom Erdboden tilgt, sind die Überlebenden plötzlich zweimal so »überrepräsentiert«.
Schließlich steigt man wieder in den Bus, um nach Birkenau zu fahren, in das Todeslager. (Pardon -
Brzezinka.
Auch von »Birkenau« liest man in Polen nichts.) Dort, in den großen, verfallenen römischen Bädern der Todesfabrik, weinen selbst die Europäer. Die Traurigkeit dieser Stätte ist förmlich zu hören, ein Kratzen, das durch die Ohren eindringt.
Dann kommt die Fremdenführerin zu jedem Einzelnen, berührt ihn an der Schulter und sagt leise, dass es zurück nach Krakau geht.
»Aber wir halten in Monowitz?«, fragt man.
Sie sagt, »Monowitz« sei ihr nicht bekannt.
»Monowice«,
verbessert man sich. »Dwory. Das I. G. Farben-Lager. Auschwitz III.«
»Ach so. Dahin fahren wir nicht«, sagt sie.
»Wieso nicht?«, sagt man. Die Hälfte aller Auschwitz-Überlebenden war dort interniert. Nicht nur die eigenen Großeltern: Leute wie Primo Levi und Eli Wiesel.
»Ich bin nur die Fremdenführerin«, sagt sie.
Zu guter Letzt droht man, zu Fuß zu gehen, wenn man nicht abgesetzt wird, und sie nimmt einen beim Wort. Man findet die Straße und folgt ihr eine halbe Stunde lang. Man kommt zu einem Stacheldrahttor, neu, mit echten, MG-bewehrten Wachen. Von einem erfährt man, dass Besuche »nur mit Sondererlaubnis« möglich sind.
Blickt man an ihm vorbei, sieht man, warum. Monowitz pumpt
wie eh und je
Ruß in den Himmel. Es ist noch in Betrieb und wurde niemals dichtgemacht.*
(I.G. Farben, das Chemieunternehmen, das in Auschwitz das Arbeitslager betrieb - »I. G.« steht für »Interessengemeinschaft« -, wurde nach dem Krieg unter dem Namen IG i.L. weitergeführt, angeblich, um die Entschädigung für die ehemaligen Zwangsarbeiter aufbringen zu können, von denen zeitweise 83 000 im Lager gelebt hatten. Jahrzehntelang stellte IGF sich dann als von habgierigen, rachsüchtigen Juden zu Unrecht verfolgt hin. 2003 sah IGF sich mit der Forderung konfrontiert, tatsächlich 250 000 Dollar (insgesamt, nicht pro Person) Entschädigung zu zahlen, und meldete stattdessen Konkurs an. Aber erst, nachdem es Agfa, BASF, Bayer und Hoechst (jetzt Teil des Pharmariesen Aventis) abgestoßen hatte, die bis heute gut im Geschäft sind.)
Nachdem man sich mit den lachenden, schweinsgesichtigen Wächtern am Tor unterhalten hat, läuft man nach Auschwitz zurück und nimmt ein Taxi und spürt, wie sich die Fingernägel in die hohle Hand graben.
In Krakau -
Heilandzack! Die Schlümpfe haben ein mittelalterliches Dorf auf einem Hügel gebaut! Und es sieht immer noch toll aus, so fein gegliedert wie das Zifferblatt einer Uhr, weil der Nazigouverneur von Polen im Schloss wohnte und die Gebäude unter seinem Schutz standen! -
aß ich in einem Kaffeehaus aus der kommunistischen Ära mit echtem Holzofen zu Abend und verzog mich dann nach hinten, um das riesengroße alte Telefonbuch durchzublättern.
Sämtliche Gäste hier schienen Greiflippen und auffallend wenig Zähne zu haben, und die, die ich hören konnte, beklagten sich und hatten, wie es aussah, gute Gründe dafür. Schlagartig wurde mir klar, dass ich womöglich gerade an Wladislaw Budek vorbeigelaufen war.
Ich hatte mir Budek immer als in die Jahre gekommenen Claus von Bülow vorgestellt: ein selbstzufrieden grinsender, nichts bereuender Salonlöwe im Smoking mit einer Luger in der Tasche. Was, wenn er nun bloß ein schlurfender alter Kacker war, mit umgestülpten unteren Augenlidern und einem Plastik-Pillendöschen mit sieben kleinen Fächern, für jeden Tag eins? Wenn er zu schwerhörig und zu senil war, um überhaupt zu verstehen, was ich ihm vorhalten wollte?
Sollte ich ihm vielleicht ins Ohr brüllen:
»VOR FÜNFZIG JAHREN WAREN SIE EIN ÜBLES DRECKSCHWEIN«
Oder:
»WAHRSCHEINLICH SIND SIE IMMER NOCH EINS, HABEN ABER WOHL NICHT MEHR DIE KRAFT, DANACH ZU HANDELN«
Nun, es würde sich zeigen. Ich spürte das Kribbeln in den Fingern, bevor meine Augen das Bild registrierten: Budeks Name samt Adresse, sechs Häuserblocks entfernt.
Es war das Obergeschoss eines Reihenhauses in einer Häuserzeile mit einem langen, schmalen nichtöffentlichen Park im Rücken. Ich dachte daran, durch den Park
Weitere Kostenlose Bücher