Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)
dürftigen Informationen automatisch weitreichende Schlussfolgerungen zieht – es ist nicht imstande, zu ermessen, wie groß die Sprünge sind, die es beim Folgern macht. Wegen der WYSIATI-Regel zählen nur die verfügbaren Informationen. Weil der Grad der Überzeugung von der Kohärenz abhängt, spiegelt sich in dem subjektiven Überzeugtsein von unseren Meinungen die Kohärenz der Geschichte wider, die System 1 und System 2 entworfen haben. Die Menge an Informationen und deren Qualität spielen keine große Rolle, da sich auch aus dürftigen Informationen eine sehr gute Geschichte erarbeiten lässt. Für einige unserer wichtigsten Überzeugungen haben wir keinerlei Belege, außer dass Menschen, die wir mögen und denen wir vertrauen, diese Überzeugungen teilen. In Anbetracht dessen, wie wenig wir wissen, ist es absurd, wie fest wir an unsere Überzeugungen glauben – aber es ist auch unerlässlich.
Die Illusion der Gültigkeit
Vor etlichen Jahrzehnten verbrachte ich sehr viel Zeit unter einer stechenden Sonne und beobachtete Gruppen verschwitzter Soldaten bei der Lösung eines Problems. Ich leistete damals meinen Wehrdienst in der israelischen Armee ab. Ich hatte gerade meinen ersten akademischen Grad in Psychologie erworben und wurde nach einem Jahr als Infanterie-Offizier zum psychologischen Dienst der Armee versetzt, wo eine meiner gelegentlichen Pflichten darin bestand, bei der Beurteilung von Offiziersanwärtern zu helfen. Wir benutzten dabei Methoden, die von der britischen Armee im Zweiten Weltkrieg entwickelt worden waren.
Ein Test, die sogenannte »Gruppenaufgabe ohne Anführer«, wurde auf einem Hindernisfeld durchgeführt. Acht Kandidaten, die sich untereinander nicht kannten und die anstelle von Rangabzeichen zur Identifizierung nur Nummernschildchen trugen, sollten einen langen Baumstamm vom Boden
aufheben und zu einer etwa 1,80 Meter hohen Mauer tragen. Die gesamte Gruppe sollte über die Mauer steigen, ohne dass der Stamm den Boden oder die Mauer berührt und ohne dass eines der Gruppenmitglieder die Mauer berührt. Falls dies doch geschehen sollte, mussten die Kandidaten es melden und von vorn beginnen.
Es gab mehr als einen Lösungsweg für das Problem. Eine gängige Lösung bestand darin, dass mehrere Männer des Teams über den Pfahl auf die andere Seite krochen, während der Stamm von anderen Gruppenmitgliedern schräg gehalten wurde wie eine riesige Angel. Oder einige Soldaten kletterten auf die Schulter eines Kameraden und sprangen auf die andere Seite. Der letzte Mann musste dann auf den Pfahl hinaufspringen, der von dem Rest der Gruppe schräg gehalten wurde, längs über ihn klettern, während die anderen ihn und den Pfahl in der Luft hielten, und sicher auf die andere Seite springen. Hier kam es häufig zu Fehlern, sodass sie von vorn beginnen mussten.
Als ein Kollege und ich die Übung beobachteten, notierten wir, wer die Regie übernahm, wer zu führen versuchte, aber abgewiesen wurde, und wie kooperativ sich jeder Soldat an der gemeinsamen Anstrengung der Gruppe beteiligte. Wir sahen, wer störrisch zu sein schien, wer unterwürfig, arrogant, geduldig, jähzornig, beharrlich oder ein Drückeberger. Wir sahen manchmal jemanden, dessen Vorschlag von der Gruppe abgelehnt worden war und der sich danach aus gekränkter Eitelkeit nicht mehr sonderlich ins Zeug legte. Und wir sahen, wie auf kritische Reaktionen reagiert wurde: Wer einen Kameraden beschimpfte, dessen Fehler das Scheitern der ganzen Gruppe nach sich zog, wer sich als Anführer hervortat, wenn das erschöpfte Team wieder von vorn anfangen musste. Unter dem Stress des Ereignisses, so schien uns, kam das wahre Naturell jedes Mannes zum Vorschein. Unser Eindruck vom Charakter jedes Anwärters war so klar und evident wie die Farbe des Himmels.
Nachdem wir mehrere Versuche der Kandidaten beobachtet hatten, mussten wir unsere Eindrücke von den Führungsfähigkeiten der Soldaten zusammenfassen und mit einem Punktwert bestimmen, wer zur Offiziersausbildung zugelassen werden sollte. Wir diskutierten jeden Fall gründlich und ließen dabei unsere Eindrücke Revue passieren. Die Aufgabe war nicht schwierig, weil wir glaubten, die Führungsfähigkeiten jedes Soldaten gut einschätzen zu können. Einige der Männer hatten sich scheinbar als starke Führungspersönlichkeiten hervorgetan, andere hatten den Eindruck von Feiglingen oder arroganten Dummköpfen gemacht, wieder andere hatten eine mittelmäßige Leistung gezeigt, schienen
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