Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)
aber nicht hoffnungslos zu sein. Ziemlich viele machten einen
so schwachen Eindruck, dass wir sie als Offiziersanwärter aussiebten. Als sich unsere vielfältigen Beobachtungen an jedem Kandidaten zu einer kohärenten Geschichte verdichteten, waren wir uneingeschränkt von unseren Bewertungen überzeugt und hatten das Gefühl, dass unsere Beobachtungen eine zuverlässige Prognose über das zukünftige Verhalten der Kandidaten erlaubten. Der Soldat, der die Regie übernahm, als die Gruppe in Schwierigkeiten war, und der das Team über die Mauer lotste, war in diesem Moment ein Anführer. Da drängte sich die Einschätzung auf, dass er sich in der Ausbildung oder im Kampf genauso bewähren würde wie bei der Gruppenaufgabe. Jede andere Vorhersage schien nicht mit unseren Beobachtungen in Einklang zu stehen.
Weil unsere Eindrücke von der Leistungsfähigkeit jedes Soldaten im Allgemeinen kohärent und eindeutig waren, fielen unsere formalen Prognosen genauso bestimmt aus. Ein gewisser Punktwert schien sich von selbst aufzudrängen, und wir hatten nur selten Zweifel oder widersprüchliche Eindrücke. Wir erklärten mit der größten Selbstverständlichkeit: »Dieser wird es nie schaffen«, »Dieser Kerl ist mittelmäßig, sollte aber durchkommen« oder »Der wird ein Star«. Wir sahen keinerlei Anlass, unsere Prognosen infrage zu stellen, sie abzumildern oder einem eindeutigen Urteil auszuweichen. Bei kritischen Nachfragen waren wir jedoch bereit, zuzugeben: »Natürlich könnte alles passieren.« Wir waren bereit, dies einzuräumen, denn trotz unserer eindeutigen Eindrücke von den einzelnen Kandidaten wussten wir mit Sicherheit, dass unsere Prognosen weitgehend nutzlos waren.
Es gab überwältigende Belege dafür, dass wir den erfolgreichen Abschluss der Offiziersausbildung nicht präzise vorhersagen konnten. Alle paar Monate hatten wir eine Feedback-Sitzung, in der wir erfuhren, welche Leistungen die Kadetten auf der Offiziersschule zeigten, und unsere Beurteilungen mit den Einschätzungen der Kommandeure, die sie schon einige Zeit beobachteten, vergleichen konnten. Es war immer das Gleiche: Unsere Fähigkeit, die Leistung auf der Akademie vorherzusagen, war vernachlässigbar gering. Unsere Vorhersagen waren besser als blindes Raten – aber nicht sehr viel.
Nachdem wir die entmutigenden Neuigkeiten erfahren hatten, waren wir eine Zeit lang niedergeschlagen. Aber wir waren in der Armee. Ob nützlich oder nicht, es gab bestimmte Abläufe, die einzuhalten, und Befehle, die zu befolgen waren. Am nächsten Tag traf ein neuer Schwung von Kandidaten ein. Wir führten sie zu dem Hindernisfeld, wir konfrontierten sie mit der Mauer, sie hoben den Stamm auf, und innerhalb einiger Minuten glaubten wir so klar und deutlich wie zuvor ihre wahre Natur zu erkennen. Die betrübliche Wahrheit
über die Qualität unserer Vorhersagen hatte keinerlei Auswirkung auf unsere Beurteilung der Kandidaten und nur sehr geringe Auswirkungen darauf, wie überzeugt wir von unseren Urteilen und Vorhersagen über Einzelpersonen waren.
Was passierte, war bemerkenswert. Die umfassenden Belege für unser vorhergehendes Versagen hätten unser Vertrauen in unsere Urteile über die Kandidaten erschüttern müssen, aber das geschah nicht. Sie hätten uns dazu veranlassen sollen, unsere Vorhersagen zu mäßigen, aber das taten sie nicht. Wir wussten, dass unsere Vorhersagen grundsätzlich kaum besser als ein blindes Raten waren, aber wir fühlten und verhielten uns weiterhin so, als wäre jede unserer konkreten Vorhersagen gültig. Ich musste an die Müller-Lyer-Illusion denken, bei der die Geraden gleich lang sind, aber trotzdem unterschiedlich lang erscheinen. Die Analogie beeindruckte mich dermaßen, dass ich einen Begriff für unsere Erfahrung prägte: die »Illusion der Gültigkeit«.
Ich hatte meine erste kognitive Illusion entdeckt.
Jahrzehnte später erkenne ich viele der zentralen Themen meiner Forschungsarbeit – und dieses Buches – in dieser alten Geschichte. Unsere Erwartungen hinsichtlich der zukünftigen Leistungen der Soldaten waren ein eindeutiges Beispiel für Ersetzung und insbesondere für die Repräsentativitätsheuristik. Nachdem wir das Verhalten eines Soldaten in einer künstlichen Situation eine Stunde lang beobachtet hatten, glaubten wir zu wissen, wie gut er den Herausforderungen der Offiziersausbildung gewachsen wäre und ob er im Kampf eine Führungsrolle übernehmen würde. Unsere Vorhersagen berücksichtigten in
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