Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)
sollte, wenn man den subjektiven Wert von Vermögenszuständen erforschen wollte. 1 Ich wusste nicht genug über die Nutzentheorie, um vor Respekt vor ihr geblendet zu sein, und ich war verdutzt.
Als Amos und ich uns am nächsten Tag trafen, berichtete ich ihm beiläufig, nicht auftrumpfend, von meinen Schwierigkeiten. Ich erwartete, dass er mich aufklären und mir erläutern würde, weshalb das Experiment, das mich verwirrt hatte, doch im Rahmen der Nutzentheorie erklärt werden konnte. Aber er tat nichts dergleichen – die Bedeutung der modernen Psychophysik leuchtete ihm sofort ein. Er erinnerte sich daran, dass der Wirtschaftswissenschaftler Harry Markowitz, der später für seine Beiträge zur Finanzwirtschaft mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, eine Theorie vorgeschlagen hatte, wonach Nutzwerte mit Vermögensänderungen und nicht mit Vermögenszuständen verbunden sind. Markowitz’ Theorie war damals schon 25 Jahre alt und hatte nicht viel Beachtung gefunden, aber wir gelangten schon bald zu dem Schluss, dass diese Theorie in die richtige Richtung wies und dass die Theorie, die wir entwickeln wollten,
Ergebnisse als Gewinne und Verluste, nicht als Vermögenszustände definieren würde. Wahrnehmungspsychologische Kenntnisse und Unkenntnis der Entscheidungstheorie haben gemeinsam unsere Forschung ein großes Stück vorangebracht. Wir wussten schon bald, dass wir einen gravierenden Fall von theorieinduzierter Blindheit überwunden hatten, weil die Theorie, die wir verworfen hatten, jetzt nicht nur falsch, sondern absurd anmutete. Es erheiterte uns, zu erkennen, dass wir unser gegenwärtiges Vermögen nur innerhalb einer Ungenauigkeitsspanne von etlichen Zehntausend Dollar angeben konnten. Die Vorstellung, aus dem Vermögensnutzen Einstellungen zu geringfügigen Vermögensänderungen abzuleiten, erschien uns jetzt unhaltbar. Man weiß, dass man einen theoretischen Fortschritt erzielt hat, wenn man nicht mehr rekonstruieren kann, weshalb man das Offensichtliche so lange übersehen hat. Dennoch brauchten wir Jahre, um uns über die Folgen klar zu werden, die mit der Umorientierung auf Gewinne und Verluste verbunden waren.
In der Nutzentheorie wird der Nutzen eines Gewinns durch den Vergleich der Nutzen zweier Vermögenszustände beurteilt. So ist zum Beispiel der Nutzen zusätzlicher 500 Dollar bei einem Vermögen von 1 Million Dollar die Differenz zwischen dem Nutzen von 1 000 500 Dollar und dem Nutzen von 1 Million Dollar. Und wenn man den größeren Betrag besitzt, ist der negative Nutzen eines Verlusts von 500 Dollar wiederum die Differenz zwischen den Nutzen der beiden Vermögenszustände. In dieser Theorie unterscheiden sich die Nutzen von Gewinnen und Verlusten nur in ihren Vorzeichen (+ oder – ). Die Tatsache, dass der negative Nutzen eines Verlusts von 500 Dollar größer sein könnte als der Nutzen eines Gewinnes in gleicher Höhe, lässt sich in dieser Theorie nicht abbilden. Wie in einer Situation theorieinduzierter Blindheit zu vermuten, wurden Differenzen zwischen Gewinnen und Verlusten weder erwartet noch erforscht. Es wurde einfach angenommen, dass der Unterschied zwischen Gewinnen und Verlusten keine Rolle spiele, also war es auch nicht nötig, sich näher damit zu befassen.
Amos und ich erkannten nicht sofort, dass unsere Konzentration auf Vermögensveränderungen den Weg zur Erkundung eines neuen Themas ebnete. Wir interessierten uns hauptsächlich für Unterschiede zwischen Lotterien mit hohen oder niedrigen Gewinnwahrscheinlichkeiten. Eines Tages machte Amos einen beiläufigen Vorschlag: »Wie steht es mit Verlusten?« Wir fanden rasch heraus, dass unsere vertraute Risikoaversion durch Risikobereitschaft ersetzt wurde, wenn wir einen Wechsel der Perspektive vollzogen. Betrachten wir diese beiden Probleme:
Problem 1: Was wählen Sie?
900 Dollar sicher erhalten oder eine 90-prozentige Chance, 1000 Dollar zu gewinnen.
Problem 2: Was wählen Sie?
Einen sicheren Verlust von 900 Dollar oder eine 90-prozentige Wahrscheinlichkeit, 1000 Dollar zu verlieren.
Vermutlich waren Sie bei Problem 1 risikoscheu, wie es die große Mehrzahl der Menschen ist. Der subjektive Wert eines Gewinns von 900 Dollar ist zweifellos größer als 90 Prozent des Wertes eines Gewinns von 1000 Dollar. Die risikoscheue Wahl bei diesem Problem hätte Bernoulli nicht überrascht.
Betrachten Sie nun Ihre Präferenz bei Problem 2. Wenn Sie wie die meisten anderen Menschen sind, entscheiden Sie sich bei dieser Frage
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