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Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)

Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)

Titel: Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kahneman
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Ergebnisse sind völlig unterschiedlich, obwohl die möglichen Vermögenszustände, mit denen sie konfrontiert sind, identisch sind.
    Weil Bernoullis Modell das Konzept des Referenzpunktes fehlt, berücksichtigt die Erwartungsnutzentheorie nicht die offenkundige Tatsache, dass das Ergebnis, das für Anthony vorteilhaft ist, für Betty Nachteile bringt. Sein Modell könnte Anthonys Risikoaversion erklären, aber nicht Bettys risikofreudige Präferenz für die Lotterie, ein Verhalten, das sich oftmals bei Unternehmern und Generälen beobachten lässt, wenn sämtliche ihrer Optionen schlecht sind.
    All dies scheint auf der Hand zu liegen, oder nicht? Man könnte sich ohne Weiteres vorstellen, dass Bernoulli selbst ähnliche Beispiele konstruiert und eine komplexere Theorie aufgestellt hätte, um ihnen Rechnung zu tragen; aus irgendeinem Grund tat er dies nicht. Man könnte sich auch vorstellen, dass ihm zeitgenössische Kollegen widersprochen oder spätere Wissenschaftler nach der Lektüre seines Aufsatzes Einwände erhoben haben, aber das geschah ebenfalls nicht.
    Die Frage ist, wieso sich eine Konzeption des Nutzens von Ergebnissen, die mit so naheliegenden Gegenbeispielen angreifbar ist, so lange halten konnte. Ich kann es nur mit einer intellektuellen Schwäche vieler Wissenschaftler erklären, die ich häufig bei mir selbst beobachtet habe. Ich nenne sie »theorieinduzierte Blindheit«: Sobald man eine Theorie anerkannt hat und als intellektuelles Werkzeug benutzt, ist es überaus schwer, ihre Schwächen zu bemerken. Wenn man eine scheinbar nicht mit dem Modell in Einklang zu bringende Beobachtung macht, geht man davon aus, dass es eine sehr gute Erklärung dafür geben muss, die einem aus irgendeinem Grund entgeht. Im Zweifelsfall entscheidet man zugunsten der Theorie und vertraut der Gemeinschaft von Experten, die
sie für richtig halten. Zweifellos gingen vielen Wissenschaftlern irgendwann einmal Fallbeispiele wie die von Anthony und Betty oder Jack und Jill durch den Kopf, und sie stellten beiläufig fest, dass diese Beispiele nicht mit der Nutzentheorie in Einklang zu bringen waren. Aber sie gingen ihren Bedenken nicht so weit nach, dass sie zu der Schlussfolgerung hätten kommen müssen: »Diese Theorie weist gravierende Mängel auf, weil sie die Tatsache ignoriert, dass der Nutzen von der Vorgeschichte des Vermögens einer Person abhängig ist, nicht nur von ihrem gegenwärtigen Vermögensstand.« 5 Der Psychologe Daniel Gilbert hat ganz richtig bemerkt, dass es mühsam ist, Dinge anzuzweifeln, und System 2 ist schnell erschöpft.
    Zum Thema »Bernoullis Irrtum«
     
    »Er freute sich sehr, als er vor drei Jahren eine Prämie von 20 000 Dollar erhielt, aber seither ist sein Gehalt um 20 Prozent gestiegen, sodass er eine höhere Prämie braucht, um den gleichen Nutzen zu erhalten.«
     
    »Beide Kandidaten sind mit dem Gehalt, das wir bieten, zufrieden, aber ihre Zufriedenheit wird nicht gleich groß sein, weil ihre Referenzpunkte unterschiedlich sind. Sie hat gegenwärtig ein viel höheres Gehalt.«
     
    »Sie verklagt ihn auf Alimente. Sie würde sich gern gütlich mit ihm einigen, aber er prozessiert lieber. Das ist nicht weiter verwunderlich – sie kann nur gewinnen, sodass sie risikoscheu ist. Seine Optionen dagegen sind alle schlecht, sodass er lieber das Risiko eingeht.«

26. Die Neue Erwartungstheorie
    Dank einer glücklichen Kombination aus Können und Unwissenheit entdeckten Amos und ich die zentrale Schwachstelle in Bernoullis Theorie. Auf Amos’ Empfehlung hin las ich ein Kapitel in seinem Buch. Es beschrieb Experimente, bei denen renommierte Wissenschaftler den Nutzen von Geld gemessen hatten, indem sie Menschen aufforderten, eine Auswahl unter Lotterien vorzunehmen, bei denen der Teilnehmer ein paar Penny gewinnen oder verlieren konnte. Die Experimentatoren maßen den Nutzwert von Vermögen, indem sie das Vermögen innerhalb einer Spanne von weniger als einem Dollar schwanken ließen. Dies warf Fragen auf. Ist die Annahme plausibel, dass Menschen die Chancen und Risiken von Glücksspielen anhand äußerst geringer Vermögensunterschiede beurteilen? Wie konnte man erwarten, etwas über die Psychophysik des Vermögens in Erfahrung zu bringen, indem man Reaktionen auf Gewinne und Verluste in Höhe von Pennybeträgen untersuchte? Neuere Entwicklungen in der Theorie der Psychophysik deuteten darauf hin, dass man direkte Fragen nach dem Vermögen, nicht aber nach Vermögensänderungen stellen

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