Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)
ausblendet oder stillschweigend annimmt. Nehmen wir als Beispiel die folgenden Szenarien:
Heute besitzen Jack und Jill jeweils ein Vermögen von 5 Millionen.
Gestern hatte Jack 1 Million und Jill hatte 9 Millionen.
Sind sie gleich zufrieden? (Haben sie den gleichen Nutzen?
Bernoullis Theorie nimmt an, dass der Nutzen ihres Vermögens das ist, was Menschen mehr oder weniger glücklich macht. Jack und Jill haben das gleiche Vermögen, und aus diesem Grund behauptet die Theorie, dass sie gleich zufrieden sein sollten. Aber man braucht kein Diplom in Psychologie, um zu wissen, dass Jack heute gute Laune hat, während Jill niedergeschlagen ist. Tatsächlich wissen wir, dass Jack viel zufriedener als Jill wäre, selbst wenn er heute nur 2 Millionen hätte, während sie 5 Millionen hat. Daher muss Bernoullis Theorie falsch sein.
Die Zufriedenheit, die Jack und Jill erleben, wird von der aktuellen Veränderung ihrer Vermögenslage im Verhältnis zu den verschiedenen Vermögenszuständen bestimmt, die ihre Referenzpunkte definieren (1 Million für Jack, 9 Millionen für Jill). Diese Referenzabhängigkeit ist bei Empfindung und Wahrnehmung allgegenwärtig. Das gleiche Geräusch wird als sehr laut oder recht leise erlebt, je nachdem, ob ihm ein Flüstern oder ein Brüllen vorausgeht. Um das subjektive Erleben der Lautstärke vorherzusagen, genügt es nicht, die absolute Energie des Schalls zu kennen; man muss auch die Referenzschallstärke kennen, mit der das Schallereignis automatisch verglichen wird. In ähnlicher Weise muss man den Hintergrund kennen, ehe man vorhersagen kann, ob ein grauer Fleck auf einer Seite dunkel oder hell erscheinen wird. Und so
muss man auch die Bezugsgröße kennen, ehe man den Nutzen einer bestimmten Vermögenshöhe vorhersagen kann.
Ein weiteres Beispiel dafür, was Bernoullis Theorie entgeht, liefern Anthony und Betty:
Anthonys gegenwärtiges Vermögen beträgt 1 Million.
Bettys gegenwärtiges Vermögen beträgt 4 Millionen.
Beiden wird die Wahl zwischen einer Lotterie und einer sicheren Option angeboten:
Die Lotterie: Mit jeweils gleich hoher Wahrscheinlichkeit am Ende 1 Million oder 4 Millionen besitzen.
Oder:
Am Ende 2 Millionen sicher besitzen.
Nach Bernoullis Theorie stehen Anthony und Betty vor der gleichen Wahl: Ihr erwartetes Vermögen beträgt 2,5 Millionen, wenn sie sich für das Glücksspiel entscheiden, und 2 Millionen, wenn sie die sichere Option vorziehen. Daher würde Bernoulli erwarten, dass Anthony und Betty die gleiche Wahl treffen, aber diese Vorhersage ist falsch. Die Theorie scheitert hier abermals, weil sie keine verschiedenen Referenzpunkte zulässt, von denen aus Anthony und Betty ihre Optionen abwägen. Wenn Sie sich in Anthonys und Bettys Lage hineinversetzen, werden Sie schnell erkennen, dass das gegenwärtige Vermögen eine große Rolle spielt. Sie denken vermutlich folgendermaßen:
Anthony (der gegenwärtig 1 Million besitzt): »Wenn ich mich für die sichere Option entscheide, verdoppele ich mein Vermögen mit Sicherheit. Das ist sehr attraktiv. Alternativ kann ich eine Wette eingehen, wobei ich mit je 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit mein Vermögen vervierfachen oder nichts gewinnen werde.«
Betty (die gegenwärtig 4 Millionen besitzt): »Wenn ich mich für die sichere Option entscheide, verliere ich mit Sicherheit die Hälfte meines Vermögens, was schrecklich ist. Alternativ kann ich eine Wette darauf eingehen, dass ich mit je 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit drei Viertel meines Vermögens oder nichts verlieren werde.«
Sie ahnen schon, dass Anthony und Betty höchstwahrscheinlich unterschiedliche Entscheidungen treffen werden, weil die sichere Option, 2 Millionen zu besitzen, Anthony glücklich und Betty unglücklich macht. Beachten Sie auch, dass sich das sichere Ergebnis vom schlechtesten Ergebnis der Lotterie unterscheidet: Für Anthony ist es der Unterschied zwischen der Verdopplung seines Vermögens und einer gleichbleibenden Vermögenshöhe; für Betty ist es der Unterschied zwischen dem Verlust der Hälfte ihres Vermögens und dem Verlust von drei Vierteln ihres Vermögens. Betty wird mit viel höherer Wahrscheinlichkeit das Risiko eingehen, so wie es andere tun, wenn sie die Wahl zwischen sehr schlechten Optionen haben. So, wie ich ihre Geschichte geschildert habe, denken weder Anthony noch Betty in Kategorien von Vermögenszuständen: Anthony denkt an Gewinne, und Betty denkt an Verluste. Die von ihnen beurteilten psychologischen
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