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Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)

Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)

Titel: Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kahneman
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Sie ruft ein Vorstellungsbild eines einzelnen Kindes auf, das durch eine Impfung dauerhaft behindert ist; die 99 999 ohne gesundheitliche Schäden geimpften Kinder sind in den Hintergrund verschwunden. Wie von der Nenner-Vernachlässigung vorhergesagt, werden Ereignisse mit niedriger Wahrscheinlichkeit viel stärker gewichtet, wenn sie in Kategorien von relativen Häufigkeiten (Wie viele?) beschrieben werden, als wenn sie in abstrakteren Begriffen von »Chancen«, »Risiko« oder »Wahrscheinlichkeit« (Wie wahrscheinlich?) ausgedrückt werden. Wie wir gesehen haben, kommt System 1 viel besser mit Individuen als mit Kategorien zurecht.
    Das Häufigkeitsformat hat einen starken Effekt. In einer Studie stuften die Teilnehmer, die von einer »Krankheit [erfuhren], die 1286 von 10 000 Menschen umbringt«, diese als gefährlicher ein als eine »Krankheit, die 24,14 Prozent der von ihr Betroffenen das Leben kostet«. 7 Die erste Krankheit scheint bedrohlicher zu sein als die zweite, obgleich das Risiko im ersten Fall nur halb so groß ist wie im zweiten! In einer noch direkteren Demonstration der Nenner-Vernachlässigung wurde »eine Krankheit, die bei 1286 von 10 000 Erkrankten tödlich verläuft«, für gefährlicher gehalten als eine Krankheit, »die bei 24,4 von 100 Erkrankten tödlich verläuft«. Der Effekt würde mit Sicherheit verringert oder beseitigt, wenn Teilnehmer zu einem direkten Vergleich der beiden Formulierungen aufgefordert würden, eine Aufgabe, die sich explizit an System 2 wendet. Das Leben ist jedoch für gewöhnlich ein Between-Subjects-Experiment,
bei dem man zu einem bestimmten Zeitpunkt immer nur eine Formulierung sieht. Es bedürfte eines außergewöhnlich aktiven Systems 2, um alternative Formulierungen derjenigen zu erzeugen, die Sie gesehen haben, und zu bemerken, dass sie eine andere Reaktion hervorrufen.
    Selbst erfahrene Rechtspsychologen und -psychiater sind nicht immun gegen die Wirkungen des Formats, in dem Risiken ausgedrückt werden. 8 In einem Experiment sollten Fachleute beurteilen, ob es ungefährlich wäre, einen Patienten, Mr. Jones, der schon etliche Gewalttaten begangen hatte, aus einer psychiatrischen Klinik zu entlassen. Die Informationen, die sie erhielten, beinhalteten ein Sachverständigengutachten mit der Risikoeinschätzung. Derselbe statistische Sachverhalt wurde auf zwei verschiedene Weisen beschrieben:
    Ähnliche Patienten wie Mr Jones werden mit einer geschätzten Wahrscheinlichkeit von 10 Prozent in den ersten Monaten nach ihrer Entlassung eine Gewalttat begehen.
     
    Von je hundert Patienten, die mit Mr Jones vergleichbar sind, werden schätzungsweise zehn in den ersten Monaten nach ihrer Entlassung eine Gewalttat gegen andere verüben.
    Die Fachleute, die das Häufigkeitsformat sahen, lehnten die Entlassung fast doppelt so oft ab (41 Prozent im Vergleich zu 21 Prozent im Wahrscheinlichkeitsformat). Die anschaulichere Beschreibung erzeugt ein höheres Entscheidungsgewicht für dieselbe Wahrscheinlichkeit.
    Die Macht des Formates schafft Gelegenheiten zur Manipulation, die Menschen, die auf ihren Vorteil bedacht sind, auszunutzen wissen. Slovic und seine Kollegen zitieren einen Artikel, in dem es heißt, »jährlich werden landesweit etwa tausend Morde von psychisch schwer kranken Menschen begangen, die ihre Medikamente nicht einnehmen«. Eine andere Formulierung derselben Tatsache lautet: »Von 273 000 000 Amerikanern werden in diesem Jahr tausend auf diese Weise ums Leben kommen.« Eine weitere Variante lautet: »Die Wahrscheinlichkeit, durch eine solche Person umgebracht zu werden, beträgt, auf ein Jahr bezogen, etwa 0,00036 Prozent.« Noch eine andere lautet: »Jedes Jahr werden tausend Amerikaner auf diese Weise umkommen, weniger als ein Dreißigstel der Anzahl der Menschen, die durch Suizid sterben, und etwa ein Viertel der Anzahl der Menschen, die an Kehlkopfkrebs sterben.« Slovic weist darauf hin, dass »diese interessierten Personen aus ihrer Motivation keinen Hehl machen: sie wollen der Bevölkerung mit der Gewaltneigung psychisch kranker Menschen einen Schrecken einjagen, in der Hoffnung, dass sich diese Furcht in einer besseren Finanzierung psychiatrischer Betreuungseinrichtungen niederschlägt«.
    Ein guter Anwalt, der einen DNA-Beweis in Zweifel ziehen will, sagt vor den Geschworenen nicht, dass »die Wahrscheinlichkeit einer falschen Übereinstimmung 0,1 Prozent beträgt«. Die Aussagen, dass »eine falsche Übereinstimmung bei einem von tausend

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