Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)
Man sagte ihnen, eine ihrer Erfahrungen würde wiederholt und sie könnten frei entscheiden, ob sie den Versuch mit ihrer linken oder ihrer rechten Hand wiederholen wollten. 6 Die Hälfte der Teilnehmer hatte den kurzen Versuch mit der linken Hand gemacht, die andere Hälfte mit der rechten; die eine Hälfte hatte zuerst den kurzen Versuch gemacht, die andere hatte mit dem langen begonnen und so weiter. Es handelte sich um ein sorgfältig kontrolliertes Experiment.
Das Experiment sollte einen Interessenkonflikt zwischen dem erlebenden und dem erinnernden Selbst sowie zwischen dem Erfahrungs- und dem Entscheidungsnutzen erzeugen. Aus der Sicht des erlebenden Selbst war der lange Versuch offensichtlich schlimmer. Wir erwarteten, dass das erinnernde Selbst eine andere Meinung hätte. Die Höchststand-Ende-Regel sagt vorher, dass der kurze Versuch in negativerer Erinnerung bleiben wird als der längere, und die Vernachlässigung der Dauer sagt vorher, dass die Differenz zwischen neunzig und sechzig Sekunden Schmerzerleben ignoriert wird. Daher gingen wir davon aus, dass die Probanden den langen Versuch in besserer (oder weniger schlechter) Erinnerung behalten hatten und sich dafür entscheiden würden, ihn zu wiederholen. Und das taten sie auch. Ganze 80 Prozent der Teilnehmer, die berichteten, ihre Schmerzen hätten in der Schlussphase des längeren Versuchs nachgelassen, entschieden sich, diesen zu wiederholen; sie erklärten sich also bereit, in dem vorweggenommenen dritten Versuch dreißig Sekunden lang unnötige Schmerzen zu erdulden.
Die Probanden, die die lange Episode vorzogen, waren keine Masochisten und entschieden sich nicht absichtlich dafür, sich der schlimmeren Erfahrung auszusetzen; sie machten einfach einen Fehler. Hätten wir sie gefragt: »Was ziehen Sie vor: ein neunzig Sekunden langes Eintauchen oder nur den ersten Teil davon?«, dann hätten sie mit Sicherheit die zweite Option gewählt. Aber wir benutzten nicht diese Worte, und die Probanden taten das, was für sie selbstverständlich war: Sie beschlossen, die Episode zu wiederholen, an die sie sich mit weniger Unlust erinnerten. Die Probanden wussten recht genau, welche der beiden Reizexpositionen länger dauerte – wir fragten sie –, aber sie nutzten dieses Wissen nicht. Ihre Entscheidung folgte einer einfachen Regel intuitiver Wahl: Wähle die Option aus, die du am meisten magst beziehungsweise am wenigsten nicht magst. Gedächtnisregeln beeinflussten, wie stark ihre Abneigung gegen die beiden Optionen war, was wiederum ihre Wahl bestimmte. Wie das von mir konzipierte Injektionsproblem offenbarte auch das Kalte-Hand-Experiment eine Diskrepanz zwischen Entscheidungs- und Erfahrungsnutzen.
Die Präferenzen, die wir bei diesem Experiment beobachteten, sind ein weiteres Beispiel für den Weniger-ist-mehr-Effekt, dem wir bei früheren Gelegenheiten begegnet sind. Eine davon war Christopher Hsees Studie, bei der das Hinzufügen von Teilen zu einem 24-teiligen Geschirrservice den Gesamtwert verringerte, weil einige der zusätzlichen Geschirrteile beschädigt waren. Ein weiteres Beispiel war Linda, die Aktivistin, die mit höherer Wahrscheinlichkeit
als eine feministische Bankkassiererin denn als eine Bankkassiererin identifiziert wird. Die Ähnlichkeit ist kein Zufall. Das gleiche »Betriebsmerkmal« von System 1 erklärt alle drei Situationen: System 1 repräsentiert Mengen durch Mittelwerte, Normen und Prototypen, nicht durch Summen. Jede Kalte-Hand-Episode besteht aus einer Menge von Momenten, die das erinnernde Selbst als einen prototypischen Moment abspeichert. Dies führt zu einem Konflikt. Für einen objektiven Beobachter, der die Episode auf der Basis der Berichte des erlebenden Selbst beurteilt, zählt die »Fläche unter der Kurve«, die den Schmerz im Zeitablauf integriert; sie besitzt die Eigenschaft einer Summe. Dagegen ist die Erinnerung, die das erinnernde Selbst im Gedächtnis hinterlegt, ein repräsentativer Moment, der stark von dem Höchststand und dem Ende beeinflusst wird.
Selbstverständlich hätte die Evolution das Gedächtnis der Tiere so gestalten können, dass es Integrale speichert, wie es dies in manchen Fällen sicherlich tut. Für ein Eichhörnchen ist es wichtig, die Gesamtmenge der Futtervorräte, die es angelegt hat, zu »kennen«. Eine Repräsentation der Durchschnittsgröße der Nüsse wäre kein guter Ersatz. Doch die Gesamtsumme an erlebter Unlust oder Lust im Zeitablauf mag biologisch weniger relevant
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