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Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)

Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)

Titel: Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kahneman
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Diener und seine Studenten fragten sich, ob die Vernachlässigung der Dauer und die Höchststand-Ende-Regel auch die Bewertung ganzer Biografien bestimmt. Sie benutzten eine kurze Lebensbeschreibung einer fiktiven Figur namens Jen, einer unverheirateten Frau ohne Kinder, die bei einem Verkehrsunfall auf der Stelle und schmerzlos starb. In einer Version von Jens Geschichte war sie ihr ganzes Leben hindurch (das entweder dreißig oder sechzig Jahre dauerte) überaus glücklich; sie liebte ihre Arbeit, machte oft Urlaub, verbrachte Zeit mit ihren Freunden und ihren Hobbys. In einer anderen Version lebte Jen fünf Jahre länger, und sie starb jetzt entweder mit 35 oder mit 65. Die zusätzlichen Jahre wurden als angenehm, wenn auch weniger glücklich als die Zeit davor beschrieben. Nachdem jeder Teilnehmer eine kurze Biografie von Jen gelesen hatte, beantwortete er zwei Fragen: »Wie erstrebenswert
erscheint Ihnen Jens Leben, aufs Ganze gesehen?« und »Wie viel Glück oder Unglück hat Jen Ihrer Meinung nach insgesamt in ihrem Leben erlebt?«.
    Die Ergebnisse lieferten eindeutige Belege sowohl für die Vernachlässigung der Dauer wie für den Höchststand-Ende-Effekt. In einem Experiment mit Between-Subjects-Design (verschiedenen Probanden werden verschiedene Bedingungen dargeboten) wirkte sich die Verdopplung der Dauer von Jens Lebenszeit in keiner Weise auf die Bewertung aus, wie erstrebenswert ihr Leben sei, oder auf Urteile über das gesamte Lebensglück von Jen. Ihr Leben wurde eindeutig durch einen prototypischen Zeitabschnitt, nicht als eine Folge von Zeitabschnitten repräsentiert. Infolgedessen war ihre Gesamtzufriedenheit die Zufriedenheit eines typischen Zeitraums in ihrem Leben, nicht die Summe (oder das Integral) der Zufriedenheit über die Dauer ihres Lebens.
    Ausgehend von dieser Idee, fanden Diener und seine Studenten wie zu erwarten auch einen Weniger-ist-mehr-Effekt, einen starken Hinweis darauf, dass eine Summe durch einen Durchschnitt (Prototyp) ersetzt wurde. Die Hinzufügung fünf leidlich glücklicher Jahre zu einem sehr glücklichen Leben führte zu deutlich schlechteren Bewertungen der Gesamtzufriedenheit dieses Lebens.
    Auf meine Anregung hin erhoben sie auch Daten über die Auswirkungen der zusätzlichen fünf Jahre im Rahmen eines Within-Subject-Experiments: Jeder Proband gab beide Urteile unmittelbar nacheinander ab. Ungeachtet meiner langen Erfahrung mit Urteilsfehlern glaubte ich nicht, dass vernünftige Menschen behaupten würden, die Hinzufügung fünf leidlich glücklicher Jahre zu einem Leben werde dessen Bilanz erheblich verschlechtern. Ich irrte mich. Die Intuition, wonach die enttäuschenden fünf zusätzlichen Jahre die gesamte Lebensbilanz verschlechterten, war übermächtig.
    Das Muster der Urteile schien so absurd zu sein, dass Diener und seine Studenten anfangs glaubten, es spiegele die Torheit der jungen Menschen wider, die an ihren Experimenten teilnahmen. Aber das Muster änderte sich nicht, als die Eltern und ältere Freunde der Studenten dieselben Fragen beantworteten. Bei der intuitiven Bewertung ganzer Lebensläufe sowie kurzer Episoden kommt es auf Höchststände und Endzustände an, jedoch nicht auf die Dauer. 2
    Die Schmerzen der Geburtswehen und der Nutzen von Ferien werden immer als Einwände gegen die Idee der Vernachlässigung der Dauer hervorgebracht: Wir alle teilen die Intuition, dass es weit schlimmer ist, wenn die Geburtswehen 24 statt sechs Stunden dauern, und dass sechs Tage an einem schönen Urlaubsort besser sind als drei. In diesen Situationen scheint die Dauer von Belang zu sein, aber dies ist nur deshalb der Fall, weil die Qualität des
Endes sich mit der Länge der Episode verändert. Die Mutter ist nach 24 Stunden ausgelaugter und hilfloser als nach sechs Stunden; der Urlauber ist nach sechs Tagen erquickter und ausgeruhter als nach drei Tagen. Das, was bei der intuitiven Bewertung solcher Episoden wirklich zählt, ist die fortschreitende Verschlechterung oder Verbesserung der andauernden Erfahrung und wie sich die Person am Ende fühlt.

Amnestischer Urlaub
    Betrachten Sie folgende Urlaubsvarianten. Wollen Sie lieber eine entspannende Woche an dem vertrauten Strand verbringen, zu dem Sie letztes Jahr fuhren? Oder wollen Sie Ihren Gedächtnisspeicher anreichern? Verschiedene Wirtschaftszweige sind entstanden, um auf diese alternativen Bedürfnisse einzugehen: Urlaubsorte bieten erholsame Entspannung; der Tourismus hilft Menschen, Geschichten zu

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