Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)
sein. Wir wissen zum Beispiel, dass Ratten eine Vernachlässigung der Dauer von Lust- und Schmerzerfahrungen zeigen. In einem Experiment wurden Ratten regelmäßig einer Folge von Reizen ausgesetzt, bei der das Aufleuchten einer Lampe die baldige Verabreichung eines Stromschlags ankündigte. Die Ratten lernten schnell, das Licht zu fürchten, und die Intensität ihrer Furcht konnte mit mehreren physiologischen Reaktionen gemessen werden. Der wichtigste Befund war, dass sich die Dauer des Schocks nicht nennenswert oder gar nicht auf die Furcht auswirkte – allein die Schmerzintensität des Reizes zählte. 7
Andere klassische Studien zeigten, dass die elektrische Stimulation spezifischer Areale im Rattengehirn (und entsprechender Areale im menschlichen Gehirn) ein intensives Lustgefühl erzeugt, in einigen Fällen so intensiv, dass Ratten, die ihr Gehirn durch Drücken eines Hebels stimulieren können, verhungern, weil sie keine Pause zur Nahrungsaufnahme einlegen. Die lustvolle elektrische Stimulation kann in Spannungsstößen unterschiedlicher Stärke und Dauer verabreicht werden. Auch hier kommt es allein auf die Intensität an. Bis zu einem gewissen Punkt scheint die Ausweitung der Dauer eines stimulierenden elektrischen Impulses das Verlangen des Tieres danach nicht zu steigern. 8 Die Regeln, nach denen das erinnernde Selbst des Menschen funktioniert, haben eine lange evolutionäre Geschichte.
Biologie kontra Rationalität
Die nützlichste Erkenntnis aus dem Injektionsproblem, das mich vor Jahren beschäftigte, bestand darin, dass der Erfahrungsnutzen einer Reihe gleich schmerzhafter Injektionen durch bloßes Zählen der Injektionen gemessen werden kann. Wenn alle Injektionen gleich unangenehm sind, dann sind zwanzig davon doppelt so unangenehm wie zehn, und eine Verringerung von zwanzig auf achtzehn ist genauso nützlich wie eine von sechs auf vier. Wenn der Entscheidungsnutzen nicht dem Erfahrungsnutzen entspricht, dann stimmt etwas mit der Entscheidung nicht. Die gleiche Logik zeigte sich beim Kalte-Hand-Experiment: Eine Schmerzepisode, die neunzig Sekunden dauert, ist schlimmer als die ersten sechzig Sekunden dieser Episode. Wenn Menschen sich bereitwillig entscheiden, die längere Episode über sich ergehen zu lassen, dann stimmt etwas mit ihrer Entscheidung nicht. Bei dem Injektionsproblem war die Diskrepanz zwischen der Entscheidung und der Erfahrung auf die abnehmende Empfindlichkeit zurückzuführen: Die Differenz zwischen achtzehn und zwanzig ist weniger eindrucksvoll, und sie scheint weniger wert zu sein als die Differenz zwischen sechs und vier Injektionen. In dem Kalte-Hand-Experiment spiegeln sich in dem Fehler zwei Prinzipien der Gedächtnisbildung wider: Vernachlässigung der Dauer und Höchststand-Ende-Regel. Die Mechanismen sind unterschiedlich, aber das Ergebnis ist das gleiche: eine Entscheidung, die nicht richtig auf die Erfahrung abgestimmt ist.
Entscheidungen, die nicht die bestmögliche Erfahrung hervorbringen, und Fehlprognosen zukünftiger Gefühle – beides sind schlechte Neuigkeiten für diejenigen, die an die Rationalität des menschlichen Entscheidungsverhaltens glauben. Die Kalte-Hand-Studie zeigte, dass wir nicht voll und ganz darauf vertrauen können, dass sich in unseren Präferenzen unsere Interessen widerspiegeln, selbst wenn sie auf persönlichen Erfahrungen beruhen und die Erinnerung an diese Erfahrung innerhalb der letzten Viertelstunde abgespeichert wurde! Präferenzen und Entscheidungen werden von Erinnerungen geprägt, und die Erinnerungen können falsch sein. Die empirischen Befunde erschüttern die Annahme, Menschen hätten konstante Präferenzen und wüssten, wie sie deren Nutzwert maximieren können, was ein Eckpfeiler des Modells vom rationalen Agenten ist. In unseren Intellekt ist eine Inkonsistenz eingebaut. Wir haben starke Präferenzen bezüglich der Dauer unserer Unlust- und Lusterfahrungen. Wir wollen, dass Unlust schnell vergeht und Lust andauert. Aber unser Gedächtnis, eine Funktion von System 1, ist evolutionär dafür ausgelegt, den
intensivsten Moment (den »Gipfel«) einer schmerzhaften oder lustvollen Episode und die Gefühle am Ende der Episode abzuspeichern. Ein Gedächtnis, das die Dauer vernachlässigt, ist unserer Vorliebe für lange lustvolle Erlebnisse und kurze schmerzhafte Episoden nicht dienlich.
Zum Thema »Zwei Selbste«
»Du beurteilst deine gescheiterte Ehe allein aus der Perspektive des erinnernden Selbst. Eine Scheidung
Weitere Kostenlose Bücher