Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)
erscheint Ihnen vorrangiger? Ich habe keine wissenschaftliche Erhebung durchgeführt, aber mein Eindruck ist, dass eine große Mehrheit eine Verringerung der im Gedächtnis gespeicherten Schmerzerfahrung
vorziehen wird. Ich finde es hilfreich, dieses Dilemma als einen Interessenkonflikt zwischen zwei Selbsten (die nicht den vertrauten Systemen entsprechen) aufzufassen. Das »erlebende Selbst« beantwortet die Frage: »Tut es jetzt weh?«; das »erinnernde Selbst« beschäftigt sich hingegen mit der Frage: »Wie war es im Großen und Ganzen?« Erinnerungen sind alles, was uns von unseren Lebenserfahrungen bleibt, und die einzige Perspektive, die wir uns zu eigen machen können, wenn wir über unser Leben nachdenken, ist daher die des erinnernden Selbst.
Der Kommentar eines Zuhörers nach einem Vortrag, den ich gehalten hatte, verdeutlicht die Schwierigkeit, Erinnerungen von Erfahrungen zu unterscheiden. Er erzählte, er habe hingebungsvoll einer langen Symphonie auf einer CD gelauscht, die zum Ende hin zerkratzt gewesen sei, was entsetzliche Geräusche erzeugt habe. Und er sagte, dieser missratene Schluss habe »ihm das ganze Erlebnis verdorben«. Aber das stimmte nicht, nicht das Erlebnis als solches wurde ruiniert, sondern nur die Erinnerung daran. Das erlebende Selbst hatte eine Erfahrung gemacht, die fast zur Gänze positiv war, und der missratene Schluss konnte dies nicht ungeschehen machen, weil die Erfahrung bereits stattgefunden hatte. Mein Fragesteller hatte die gesamte Episode als ungenügend beurteilt, weil sie sehr schlecht ausgegangen war, aber diese Beurteilung ignorierte faktisch vierzig Minuten reinsten Musikgenusses. Zählt die tatsächliche Erfahrung nichts?
Die Verwechslung der Erinnerung mit der tatsächlichen Erfahrung ist eine zwingende kognitive Illusion – und es ist diese Ersetzung, die uns glauben macht, eine vergangene Erfahrung sei von Grund auf negativ gewesen. Das erlebende Selbst hat keine Stimme. Das erinnernde Selbst irrt sich manchmal, aber es ist dasjenige, das Buch führt und bestimmt, was wir aus dem Leben lernen, und es ist auch dasjenige, das Entscheidungen trifft. Die Vergangenheit lehrt uns, die Qualitäten unserer zukünftigen Erinnerungen, nicht unbedingt unserer zukünftigen Erfahrungen, zu maximieren. Dies ist die Tyrannei des erinnernden Selbst.
Welches Selbst sollte zählen?
Um die Entscheidungsmacht des erinnernden Selbst zu veranschaulichen, entwarfen meine Kollegen und ich ein Experiment, bei dem wir eine milde Form von Folter anwandten, die ich »Kalte-Hand-Situation« nennen werde (der
hässliche Fachterminus lautet »Kältedrucktest«). Die Probanden sollen ihre Hand bis zum Handgelenk in schmerzhaft kaltes Wasser eintauchen, bis sie aufgefordert werden, sie herauszunehmen, und ihnen ein warmes Handtuch angeboten wird. Die Versuchspersonen in unserem Experiment benutzten ihre freie Hand, um Pfeile auf einer Tastatur zu steuern und so ein kontinuierliches Protokoll ihrer Schmerzempfindungen zu liefern – eine direkte Kommunikation ihres erlebenden Selbst. Wir wählten eine Temperatur, die mittlere, aber erträgliche Schmerzen verursachte: die freiwilligen Teilnehmer durften natürlich jederzeit ihre Hand aus dem kalten Wasser herausnehmen, aber niemand tat dies.
Jeder Proband machte zwei Kalte-Hand-Episoden durch:
Die kurze Episode bestand aus einem sechzig Sekunden langen Eintauchen in Wasser mit einer Temperatur von 14 Grad Celsius, was als unangenehm, aber nicht unerträglich kalt erlebt wurde. Am Ende der sechzig Sekunden wies der Experimentator den Teilnehmer an, seine Hand aus dem Wasser herauszunehmen, und bot ihm ein warmes Handtuch an.
Die lange Episode dauerte neunzig Sekunden. Ihre ersten sechzig Sekunden waren identisch mit der kurzen Episode. Nach den sechzig Sekunden sagte der Experimentator nichts. Stattdessen öffnete er ein Ventil, worauf geringfügig wärmeres Wasser in die Wanne lief. Während der zusätzlichen dreißig Sekunden stieg die Temperatur des Wassers um etwa ein Grad, gerade genug für die meisten Probanden, um eine leichte Abnahme der Schmerzintensität zu empfinden.
Wir sagten unseren Probanden, dass sie drei Kalte-Hand-Versuche absolvieren würden – tatsächlich machten sie nur die kurze und die lange Episode durch, jede mit einer anderen Hand. Zwischen den beiden Versuchen lagen sieben Minuten. Sieben Minuten nach dem zweiten Versuch gab man den Teilnehmern eine Wahlmöglichkeit in Bezug auf den dritten Versuch.
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