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Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)

Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)

Titel: Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kahneman
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ist ebenfalls Teil
einer allgemeineren kognitiven Verzerrung: Wir neigen dazu, die Konsistenz und Kohärenz dessen, was wir sehen, zu überzeichnen. Dieser überzogene Glaube von Forschern an die Aussagekraft von einigen wenigen Beobachtungen ist eng mit dem Halo-Effekt verbunden, dem Gefühl, das wir oftmals haben, einen Menschen, über den wir tatsächlich nur wenig wissen, gut zu kennen und zu verstehen. System 1 greift den Tatsachen vor, wenn es auf der Grundlage von Informationsbruchstücken ein differenziertes Bild konstruiert. Eine Maschine für voreilige Schlussfolgerungen arbeitet so, als würde sie an das Gesetz der kleinen Zahlen glauben. Ganz allgemein bringt sie eine Repräsentation der Wirklichkeit hervor, die mehr Sinn ergibt, als vorhanden ist.

Ursache und Zufall
    Die Assoziationsmaschine sucht nach Ursachen. Die Schwierigkeit, die wir mit statistischen Regelmäßigkeiten haben, besteht darin, dass sie eine andere Herangehensweise erfordern. Statt sich auf die Frage zu konzentrieren, wodurch ein bestimmtes Ereignis hervorgebracht wurde, fragt die statistische Betrachtungsweise, was sich stattdessen hätte ereignen können. Dieses konkrete Ereignis hatte keine bestimmte Ursache – der Zufall hat es unter seinen Alternativen ausgewählt.
    Unsere Neigung zu kausalem Denken macht uns anfällig für gravierende Fehler bei der Beurteilung der Zufälligkeit echter Zufallsereignisse. Nehmen wir zum Beispiel das Geschlecht von sechs Säuglingen, die nacheinander in einem Krankenhaus geboren werden. Die Folge von Jungen und Mädchen ist offensichtlich zufallsabhängig; die Ereignisse sind unabhängig voneinander, und die Anzahl der Jungen und Mädchen, die in den letzten Stunden im Krankenhaus zur Welt kamen, hat keinerlei Auswirkungen auf die Geschlechtszugehörigkeit des nächsten Neugeborenen. Betrachten wir jetzt drei mögliche Folgen:
    J J J M M M
M M M M M M
J M J J M J
    Sind die Folgen gleich wahrscheinlich? Die intuitive Antwort – »Natürlich nicht!« – ist falsch. Weil die Ereignisse unabhängig voneinander sind und weil die Ergebnisse J und M (annähernd) gleich wahrscheinlich sind, ist jede mögliche
Folge von sechs Geburten so wahrscheinlich wie jede andere. Selbst jetzt, wo Sie wissen, dass diese Schlussfolgerung wahr ist, bleibt sie kontraintuitiv, weil nur die dritte Folge einen Zufallscharakter aufzuweisen scheint. Erwartungsgemäß wird JMJJMJ als viel wahrscheinlicher beurteilt als die beiden anderen Folgen. Wir suchen unwillkürlich überall nach Mustern, wir glauben fest an eine kohärente Welt, in der Regelmäßigkeiten (wie etwa die Folge von sechs Mädchen) nicht zufällig auftreten, sondern die Folge mechanischer Kausalität oder der Intention eines Handelnden sind. Wir erwarten nicht, dass Regelmäßigkeit durch einen Zufallsprozess hervorgebracht wird, und wenn wir eine scheinbare Regel erkennen, verwerfen wir schnell die Annahme, der Prozess sei in Wahrheit ein zufallsabhängiger. Zufallsprozesse erzeugen viele Folgen, die Menschen davon überzeugen, dass der Prozess keineswegs zufällig ist. Sie ahnen vermutlich, weshalb die Kausalitätsvermutung evolutionäre Vorteile mit sich bringen kann. Sie ist Bestandteil der allgemeinen Vigilanz – Aufmerksamkeit  –, die wir von unseren Ahnen geerbt haben. Wir halten unwillkürlich Ausschau danach, ob sich etwas in der Umwelt verändert hat. Löwen mögen zu unvorhersehbaren Zeiten auf einer Ebene auftauchen, aber es wäre sicherer, wenn man eine scheinbare Zunahme in der Häufigkeit des Auftauchens von Löwenrudeln registrieren und darauf reagieren könnte, auch wenn es sich tatsächlich um Schwankungen bei einem Zufallsprozess handelt.
    Das weitverbreitete Missverstehen des Zufallsbegriffs hat manchmal weitreichende Folgen. In unserem Artikel über Repräsentativität zitierten Amos und ich den Statistiker William Feller, der anhand eines Beispiels verdeutlichte, wie leicht wir Muster erkennen, wo gar keine vorhanden sind. Während des intensiven Raketenbeschusses von London im Zweiten Weltkrieg wurde allgemein angenommen, dass der Beschuss nicht wahllos erfolgt sei, weil eine Karte der Einschläge auffällige Lücken zum Vorschein brachte. Einige vermuteten, in den verschonten Gebieten hielten sich deutsche Spione auf. 5 Eine sorgfältige statistische Analyse enthüllte, dass die Verteilung der Einschläge typisch für einen Zufallsprozess war – und auch typisch insofern, als sie den starken Eindruck hervorrief, nicht

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