Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)
Anker
Amos und ich haben einmal ein Glücksrad manipuliert. Es war mit einer Markierung von 0 bis 100 versehen, aber wir hatten es so konstruiert, dass es nur auf 10 oder auf 65 stehen blieb. Wir rekrutierten Studenten der Universität Oregon als Teilnehmer unseres Experiments. Einer von uns stand vor einer kleinen Gruppe, drehte das Rad und forderte sie auf, die Zahl aufzuschreiben, bei der das Rad stehen blieb, was natürlich entweder bei der 10 oder der 65 der Fall war. Dann stellten wir ihnen zwei Fragen:
Ist der Prozentsatz afrikanischer Staaten unter den Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen größer oder kleiner als die Zahl, die Sie gerade aufgeschrieben haben?
Wie hoch ist Ihrer Einschätzung nach der Prozentsatz afrikanischer Staaten in den Vereinten Nationen?
Das Drehen eines Glücksrads – selbst eines, das nicht manipuliert wurde – kann keinerlei nützliche Informationen über irgendetwas liefern, und die Teilnehmer unseres Experiments hätten es schlichtweg ignorieren sollen. Aber sie ignorierten es nicht. Die mittleren Schätzwerte derjenigen, die 10 bzw. 65 sahen, beliefen sich auf jeweils 25 bzw. 45 Prozent.
Das Phänomen, das wir studierten, ist im Alltag so weit verbreitet und so wichtig, dass Sie seinen Namen kennen sollten: Es ist ein »Ankereffekt« . Er ereignet sich, wenn Menschen einen bestimmten Wert für eine unbekannte Größe erwägen, bevor sie diese Größe abgeschätzt haben. Was hier geschieht, ist ein Beispiel für einen der zuverlässigsten und robustesten Befunde der experimentellen Psychologie: Die Schätzwerte bleiben nahe bei der Zahl, die den Personen im Vorfeld dargeboten wurde. Wenn man Sie fragt, ob Gandhi über 114 Jahre alt war, als er starb, werden Sie sein Alter bei seinem Tod viel höher schätzen, als Sie es tun würden, wenn die Ankerfrage auf einen Tod mit 35 Jahren verweisen würde. Wenn Sie überlegen, wie viel Sie für ein Haus bezahlen sollten, werden Sie von der ursprünglichen Preisforderung beeinflusst. Dasselbe Haus wird
Ihnen wertvoller erscheinen, wenn sein Listenpreis höher ist, als wenn er niedrig ist, selbst wenn Sie entschlossen sind, sich nicht von dieser Zahl beeinflussen zu lassen; und so weiter – die Liste der Ankereffekte ist endlos. Jede Zahl, die Ihnen als mögliche Lösung für ein Schätzungsproblem präsentiert wird, erzeugt einen Ankereffekt.
Wir waren nicht die Ersten, die die Effekte von Ankern beobachteten, aber unser Experiment wies erstmals nach, wie absurd Ankereffekte sind: Die Urteile von Menschen werden von einer Zahl beeinflusst, die offenkundig keinen Informationsgehalt hat. Der Ankereffekt eines Glücksrads lässt sich in keiner Weise als rational beschreiben. Amos und ich veröffentlichten das Experiment in unserem Science -Aufsatz, und es ist einer der bekanntesten Befunde, über die wir dort berichteten.
Es gab nur ein Problem: Amos und ich waren uns über die psychologische Erklärung des Ankereffekts nicht einig. Er befürwortete eine Interpretation, ich zog eine andere vor, und wir konnten unsere Kontroverse nicht beilegen. Das Problem wurde schließlich Jahrzehnte später durch die Anstrengungen zahlreicher Forscher gelöst. Heute steht fest, dass wir beide, Amos und ich, recht hatten. Zwei verschiedene Mechanismen erzeugen Ankereffekte – einer für jedes System. Eine Form der Verankerung geschieht in einem willentlichen Prozess der Anpassung und ist eine Operation von System 2. Eine andere Verankerung vollzieht sich durch einen Priming-Effekt und ist eine automatische Manifestation von System 1.
Ankerung als Anpassung
Amos gefiel die Idee einer Anpassungs-und-Anker-Heuristik als einer Strategie zur Abschätzung ungewisser Größen: Man geht von einer Ankerzahl aus, schätzt ein, ob sie zu hoch oder zu niedrig ist, und passt seine Schätzung dann nach und nach an, indem man sich mental vom Anker »wegbewegt«. Die Anpassung endet in der Regel verfrüht, weil Menschen innehalten, wenn sie sich nicht mehr sicher sind, ob sie sich weiterbewegen sollten. Jahrzehnte nach unserer Kontroverse und Jahre nach Amos’ Tod legten zwei Psychologen, die zu Beginn ihrer wissenschaftlichen Laufbahn eng mit Amos zusammengearbeitet hatten, überzeugende empirische Belege für einen solchen Prozess vor: Eldar Shafir und Tom Gilovich, in Zusammenarbeit mit ihren eigenen Studenten – den intellektuellen Enkeln von Amos!
Um die Idee zu verstehen, nehmen Sie ein Blatt Papier und zeichnen ohne Lineal eine 6,5 Zentimeter
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