Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)
heranzieht. Uns wurde mitgeteilt, dass nur vier der 15 Teilnehmer des Experiments nach der ersten Bitte Hilfe leisten wollten. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein nicht identifizierter Teilnehmer sofort hilfsbereit ist, beträgt daher 27 Prozent. Demnach sollten Sie in Bezug auf jeden nicht näher bezeichneten Teilnehmer von der Annahme ausgehen, dass er nicht sofort Hilfe leistete. Als Nächstes verlangt die Bayessche Logik, dass Sie Ihr Urteil im Lichte relevanter Informationen über die Person anpassen. Die Videos waren jedoch gezielt so gestaltet, dass sie keine sachdienlichen Informationen enthielten; sie lieferten keine Gründe für die Annahme, dass diese Personen entweder hilfsbereiter oder weniger hilfsbereit als ein zufällig ausgewählter Student wären. Wenn keine nützlichen neuen Informationen verfügbar sind, liegt die Bayessche Lösung darin, sich an die Basisraten zu halten.
Nisbett und Borgida baten zwei Studentengruppen, sich die Videos anzusehen und das Verhalten der beiden Personen vorherzusagen. Die Studenten in der ersten Gruppe wurden nur über den Ablauf des Experiments zur Hilfsbereitschaft unterrichtet, nicht über seine Ergebnisse. In ihren Vorhersagen spiegelten sich ihre Ansichten über die menschliche Natur und ihr Verständnis der Situation wider. Wie Sie vielleicht erwarten, sagten sie vorher, dass beide Personen dem Opfer sofort zu Hilfe kommen würden. Die zweite Studentengruppe kannte sowohl den Hergang des Experiments als auch dessen Ergebnisse. Der Vergleich der Vorhersagen der beiden Gruppen liefert eine Antwort auf eine bedeutsame Frage: Lernten Studenten aus den Ergebnissen des Hilfsbereitschaftsexperiments irgendetwas, das ihre Denkweise maßgeblich veränderte? Die Antwort ist einfach: Sie lernten gar nichts. Ihre Vorhersagen über die beiden Personen unterschieden sich in keiner Weise von den Vorhersagen, die Studenten machten, die nicht über die statistischen Ergebnisse des Experiments informiert worden waren. Sie kannten die Basisrate in der Gruppe, aus der die Personen ausgewählt worden waren, aber sie blieben überzeugt davon, dass die Personen, die sie auf dem Video sahen, dem in Not geratenen Fremden umgehend zu Hilfe gekommen wären.
Für Psychologie-Lehrer sind die Folgerungen, die sich aus dieser Studie ergeben, äußerst ernüchternd. Wenn wir unseren Studenten das Verhalten der Probanden im Experiment zur Hilfsbereitschaft erläutern und es mit ihnen analysieren, erwarten wir, dass sie etwas daraus lernen; wir wollen, dass sie das Verhalten von Menschen in einer bestimmten Situation in einer neuen Weise verstehen. In der Nisbett-Borgida-Studie wurde dieses Ziel nicht erreicht, und es besteht kein Grund zu der Annahme, dass etwas anderes herausgekommen wäre, wenn sie ein anderes ungewöhnliches psychologisches Experiment ausgewählt hätten. Tatsächlich berichteten Nisbett und Borgida über ähnliche Ergebnisse in einer anderen Studie, in der leichter sozialer Druck die Probanden dazu veranlasste, viel schmerzhaftere Stromschläge zu akzeptieren, als die meisten von uns (und von ihnen) erwartet hätten. Studenten, die kein neues Verständnis für die Macht sozialer Situationen entwickeln, haben nichts Nützliches aus dem Experiment gelernt. Die Vorhersagen, die sie über zufällig ausgewählte Fremde oder über ihr eigenes Verhalten machen, deuten darauf hin, dass sie ihre Meinung darüber, wie sie sich verhalten hätten, nicht geändert haben. In den Worten von Nisbett und Borgida: »Studenten nehmen sich selbst (und ihre Freunde und Bekannten) stillschweigend« von den Schlussfolgerungen der Experimente aus, die sie überraschen. Psychologie-Lehrer sollten
allerdings nicht verzweifeln, weil Nisbett und Borgida schildern, wie es ihnen gelungen ist, ihren Studenten die Pointe des Experiments zur Hilfsbereitschaft verständlich zu machen. Sie nahmen eine neue Gruppe von Studenten und schilderten ihnen den Ablauf des Experiments, nicht aber die Gruppenergebnisse. Sie führten die beiden Videos vor und sagten ihren Studenten lediglich, die beiden Personen, die sie gerade sahen, hätten dem Fremden nicht geholfen; dann forderten sie sie auf, die Ergebnisse insgesamt abzuschätzen. Es zeigte sich, dass die Schätzungen der Studenten erstaunlich genau waren.
Um Studenten neue psychologische Kenntnisse zu vermitteln, muss man sie überraschen. Aber in welcher Weise sollte man das tun? Nisbett und Borgida fanden heraus, dass ihre Studenten, wenn sie ihnen eine
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