Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)
Hilfe. Die letzten Worte, die er äußerte, waren: »Bitte … helf… Hilfe-oh-oh-oh [Würgegeräusche]. Ich … ich sterbe-er-er-er ich … sterbe-er-er … Ich … Anfall [Würgegeräusche, dann still].« In diesem Moment wurde das Mikrofon des nächsten Teilnehmers automatisch eingeschaltet, und von der möglicherweise sterbenden Person hörte man nichts mehr.
Was, glauben Sie, haben die Versuchsteilnehmer getan? Soweit die Probanden wussten, hatte einer von ihnen einen epileptischen Anfall und um Hilfe gebeten. Allerdings gab es mehrere weitere Personen, die reagieren konnten, sodass man selbst vielleicht ruhig in seiner Kabine bleiben konnte. Dies waren die Ergebnisse: Nur vier von vierzehn Teilnehmern reagierten sofort auf den Hilferuf. Sechs haben ihre Kabine zu keinem Zeitpunkt verlassen, und fünf weitere verließen ihre Kabine erst, lange Zeit nachdem das »Anfallsopfer« scheinbar Würgegeräusche von sich gegeben hatte. Das Experiment zeigt, dass sich Menschen ihrer Verantwortung, Hilfe zu leisten, entbunden fühlen, wenn sie wissen, dass andere denselben Hilferuf gehört haben. 4
Haben die Ergebnisse Sie überrascht? Sehr wahrscheinlich. Die meisten von uns halten sich für moralisch verantwortungsvolle Menschen, die in einer solchen Situation umgehend Hilfe leisten würden, und wir erwarten von anderen moralisch integren Menschen das Gleiche. In diesem Experiment ging es nun gerade darum, zu zeigen, dass diese Erwartung falsch ist. Selbst normale, verantwortungsbewusste Menschen eilen nicht zu Hilfe, wenn sie erwarten, dass andere die Unannehmlichkeit auf sich nehmen, sich um einen Menschen zu kümmern, der gerade einen epileptischen Anfall erleidet. Und das betrifft auch Sie.
Sind Sie bereit, folgender Aussage zuzustimmen: »Als ich die Beschreibung des Experiments über die Hilfsbereitschaft las, dachte ich, dass ich dem Fremden sofort zu Hilfe kommen würde, wie ich es sehr wahrscheinlich tun würde, wenn ich mit dem Opfer eines epileptischen Anfalls allein wäre. Vermutlich irrte ich mich. Wenn ich in eine Situation komme, in der andere Menschen die Gelegenheit haben, zu helfen, werde ich vermutlich nicht den ersten Schritt machen. Die Anwesenheit anderer würde mein persönliches Verantwortungsbewusstsein stärker verringern, als ich anfänglich dachte.« Ein Psychologie-Lehrer würde hoffen, dass Sie dies aus dem Experiment lernen. Hätten Sie selbst dieselben Schlüsse gezogen?
Der Psychologie-Professor, der das Experiment zur Hilfebereitschaft beschreibt, will, dass die Studenten die niedrige Basisrate als kausal betrachten,
genau wie in dem Fall der fiktiven Yale-Prüfung. Er will, dass sie in beiden Fällen folgern, dass eine erstaunlich hohe Versagerquote auf eine sehr schwierige Prüfung hindeutet. Die Studenten sollen daraus die Lektion lernen, dass ein bestimmendes Merkmal einer Situation, wie etwa die Verantwortungsdiffusion, normale, moralisch integre Personen – wie sie selbst – dazu veranlasst, sich erstaunlich wenig hilfsbereit zu verhalten.
Es ist sehr schwer, die eigenen Überzeugungen über die menschliche Natur zu verändern, und es ist noch schwerer, das eigene Selbstbild zu verändern. Nisbett und Borgida vermuteten, den Studenten widerstrebten die Anstrengung und die Unannehmlichkeit. Selbstverständlich wären die Studenten imstande und gewillt, bei einem Test die Einzelheiten des Hilfsbereitschafts-Experiments wiederzugeben, und sie würden sogar die »offizielle« Erklärung mit der Verantwortungsdiffusion wiederholen. Aber hatten sich ihre Anschauungen über die menschliche Natur wirklich verändert? Um dies herauszufinden, zeigten ihnen Nisbett und Borgida Videos von kurzen Interviews mit zwei Personen, die angeblich an der New Yorker Studie teilgenommen hatten. Die Interviews waren kurz und nichtssagend. Die Interviewten schienen freundliche, normale, verantwortungsvolle Menschen zu sein. Sie schilderten ihre Hobbys, ihre Freizeitaktivitäten und ihre Zukunftspläne, die ganz und gar gewöhnlich waren. Nachdem die Studenten das Video eines Interviews angesehen hatten, sollten sie einschätzen, wie schnell diese Person dem Fremden in Not zu Hilfe kommen würde.
Um die Bayessche Wahrscheinlichkeitslogik auf die Aufgabe anzuwenden, die den Studenten gestellt wurde, sollten Sie sich zuerst fragen, wie Sie die beiden Personen beurteilt hätten, wenn Sie ihre Interviews nicht gesehen hätten. Die Frage lässt sich dadurch beantworten, dass man die Basisrate
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