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Schnitt: Psychothriller

Schnitt: Psychothriller

Titel: Schnitt: Psychothriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Raabe
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aufwärts.«
    Â»Großer Gott«, haucht Liz. Ihr Blick wandert nach oben, zu dem Wandbehang, der über der Chaiselongue hängt. Ein Mann mit weißem langen Bart, der Gott sein könnte, wird von Fratzen und Monstern belagert. Eine knotige Hand reißt an seinem schlohweißen Haar, ein Reptil mit Vogelschnabel hackt nach seinen Fingern, und ein riesiger Adler drischt mit einem Stock nach ihm. Ganz am Rand liegt eine große Kröte auf dem Rücken, mit gespreizten Schenkeln. Ein splitternackter Mann, ebenso groß wie die Kröte, sitzt rittlings auf ihrer Hüfte und erschlägt sie mit einem Knüppel.
    Eine düstere Ahnung keimt in ihr auf.
    Â»Hier unten hat er sie umgebracht? Warum hier unten?«, fragt sie leise. »Was ist das hier?«
    Von Braunsfeld folgt ihrem Blick und lächelt schwach. »Ah, ja. Die Versuchung des Antonius. Der Isenheimer Altar, 1512, ein echtes Meisterwerk … Einfach phantastisch. Ich hätte es gerne im Original gehabt. Aber das war leider aussichtslos …« Er deutet auf den Wandbehang und muss plötzlich lachen; es klingt wie ein heiseres Bellen. »Können Sie das sehen, diesen gemalten Zettel da unten in der Ecke?«
    Liz’ Blick fällt auf die rechte untere Ecke des Wandbehangs, auf ein gemaltes Stück Papier mit handgeschriebenen Buchstaben.
    Â»Latein«, murmelt von Braunsfeld und kichert. »Wissen Sie, was da steht?«
    Liz schüttelt den Kopf. Nichts interessiert sie gerade weniger.
    Â»Wo warst du, guter Jesus, wo warst du?«, übersetzt von Braunsfeld. »Warum bist du nicht da gewesen, um meine Wunden zu heilen?« Sein Kichern geht in ein Husten über. »Passend, finden Sie nicht auch?«
    Â»Warum hat er sie umgebracht, Victor?«, fragt Liz. »Was ist hier passiert?«
    Von Braunsfeld schüttelt den Kopf und hustet Blut zwischen den Zähnen hervor. Tränen steigen in seine Augen. »Ich hätte das …«, ein heftiges Zittern läuft durch seinen Körper, »hätte das nicht zulassen dürfen. Ich konnte ihm … nichts tun … er ist, ist ja … mein …«
    Von Braunsfelds Blick wird glasig, seine Pupillen flackern und suchen einen unbestimmten Punkt hinter der Gewölbedecke. Ein Atemzug entringt sich seiner Kehle, flach und rasselnd, eine letzte Wolke, die im Nichts aufgeht.
    Liz hält den Atem an und wischt sich mit der Hand durchs Gesicht. Mit einem Schlag sind all ihre Schmerzen wieder da, der Unterleib, der Rücken, ihre brennenden Muskeln, der Glassplitter in der Hand.
    Sie sieht auf von Braunsfelds Leiche hinab. Plötzlich wird ihr klar, dass sie hier unten festsitzt. Der Gang, durch den sie die Krypta betreten hat, ist durch eine Tür versperrt, die weder Knauf noch Klinke hat, sondern eine elektronische Verriegelung, geschützt mit einem Nummerncode, den sie nicht kennt.
    Und der zweite Ausgang?
    Victor von Braunsfeld hatte mit keinem Wort erwähnt, wo der Ausgang ist, und selbst wenn sie es wüsste – der Ausgang führt in die Villa, dahin, wo er ist.
    Verzweifelt huscht ihr Blick zwischen den Säulen umher, bis ihr plötzlich auffällt, dass am oberen Ende jeder Säule die gleiche umlaufende lateinische Schrift in den Stein gehauen ist:
    CARPE NOCTEM – Nutze die Nacht.
    Ein Schauer jagt ihr über den Rücken. Sie muss an das Telefonat zwischen Bug und von Braunsfeld denken, das sie damals auf der Toilette im Linus belauscht hat. Carpe Noctem, das hatte Bug gesagt.
    Plötzlich ist ihr der Zusammenhang klar, und sie kann sich vorstellen, was hier unten in der Krypta stattfand.

Kapitel 47
    Berlin – 28. September, 06:11 Uhr
    Das Wasser schießt kalt auf Gabriels Kopf und strömt seinen Hals und Nacken hinab. Er lehnt seinen Kopf etwas zurück, spürt, wie das Wasser seine Richtung ändert und eisig über seine geschlossenen Lider läuft. Dennoch gelingt es ihm nicht, die Erschöpfung abzuwaschen.
    Als er vor einer halben Stunde aufgewacht ist, lag er auf einem Sofa, die Bettdecke bis unters Kinn hochgezogen. Er hörte Davids Atem, unruhig, aber stetig fließend, und hatte für einen Moment das Gefühl, zu Hause zu sein, unter der Dachschräge in ihrem Kinderzimmer, zugedeckt mit einer Decke, die genauso aussieht wie die von David. Luke und Luke. Zweimal Skywalker.
    Bis ihm klarwurde, dass er auf einem Sofa in Davids Wohnung lag. Und David lag auf dem

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