Schnitt: Psychothriller
Schinken und welliger Salat ragen zwischen den Brötchenhälften hervor. »Genau genommen wusste ich gar nicht, ob ich überhaupt noch einen Bruder habe. Bis vor etwa drei Stunden. Da hat er angerufen.«
Shona hebt die Augenbrauen. »Das Telefonat im Sender, als du mich umgerannt hast?«
David nickt wieder, sieht sie aber nicht an.
»Wann habt ihr euch denn das letzte Mal gesehen?«
»1987, im Winter.«
»Vor zwanzig Jahren?«
»Gabriel war damals in der Psychiatrie, in einer geschlossenen Anstalt. Drogenprobleme, unter anderem. Alleine kam er von dem Zeug nicht runter, das ging schon seit Jahren so. Er hatte sich absolut nicht im Griff. Entweder er ist auf irgendjemanden losgegangen, oder er lag zugedröhnt in irgendeiner Ecke.« Er holt Luft und seufzt. »Mein Bruder ist ein Psychopath, er war unberechenbar, und es wurde immer schlimmer. Alle hatten Angst vor ihm, ich auch. Ich glaube nicht, dass er mir etwas getan hätte. Für ihn war ich immer der kleine Bruder; der kleine David, den man beschützen musste. Aber im Grunde hätte ihn jemand beschützen müssen, vor sich selbst.«
»Und ich dachte immer, du kommst aus einer Heile-Welt-Familie â¦Â«
»Na ja, mehr oder weniger. Bis ich sieben war. Da sind ⦠unsere Eltern umgekommen.«
»O Gott«, entfährt es Shona. »Was ist passiert? Ein Unfall?«
»Es ⦠Also, ganz genau hat man das nie rausgefunden.«
Shona runzelt die Stirn. Sie spürt, dass David ihr ausweicht, fragt aber nicht weiter.
»Jedenfalls, danach sind wir in ein Heim gekommen, das Elisabethstift, in Berlin-Hermsdorf. Das alles hat Gabriel völlig aus dem Gleis geworfen. Nicht dass das verwunderlich wäre, mir ging es ja genauso, aber bei ihm war es irgendwie anders â¦Â«
»Wegen der Drogen, meinst du?«
»Nein, die Drogen kamen später. Er war gewalttätig, hat einfach um sich geschlagen. Es gab ein halbes Dutzend Vorfälle, wo er andere Kinder im Heim krankenhausreif schlug. Zuletzt hat er sich mit dem Heimleiter in dessen Büro eingeschlossen und ihm die Nase und zwei Rippen gebrochen. Danach haben sie ihn nach Falkenhorst gebracht, ein Heim für schwer Erziehbare in einer dieser alten Nazivillen an der Havel. Aber auch die sind nicht mit ihm fertig geworden, bei der kleinsten Kleinigkeit hat er sich gegen alles und jeden gewehrt.«
»Und dann?«
»Psychiatrie, die geschlossene Abteilung in der Klinik Conradshöhe. Die Besuche dort waren ein Alptraum. Ich hab mich gefühlt wie in einem Stasiknast. Vergitterte Fenster, Türen ohne Klinken, die Fernseher hinter Sicherheitsglas. Im Dezember â87, kurz vor Weihnachten, hab ich ihn noch mal besucht. Er war auf Entzug, mal wieder.«
»Entzug? Ich dachte, er war in der Geschlossenen. Da gibtâs doch höchstens Psychopharmaka, aber keine Drogen.«
David zuckt mit den Schultern. »Theoretisch schon. Aber irgendeine Quelle gibt es wohl immer. Jedenfalls haben die Pfleger ein beachtliches Päckchen in seinem Zimmer gefunden. Dazu kam noch, dass sie ihn immer wieder über längere Zeiträume mit Haldol oder anderen Psychopharmaka ruhigstellen mussten. Was da Droge und was Medizin war, das war mir nie ganz klar.«
David macht eine Pause, starrt auf die belegten Brötchen.
»Als ich in sein Zimmer kam, war er auf dem Bett fixiert. Kaum hat der Pfleger uns alleine gelassen, zog Gabriel plötzlich die Arme aus den Manschetten. Keine Ahnung, wie er das geschafft hat. Aber das ist Gabriel, so etwas kam bei ihm dauernd vor. Er fühlte sich verfolgt, war total aufgebracht und wollte weg, raus aus der Psychiatrie, abhauen. Er hatte tatsächlich den irren Plan, dass ich ihm dabei helfe.«
»Wie wollte er das denn anstellen?«, fragt Shona.
»Er hatte ein Küchenmesser.« David starrt auf das Schinkenbrötchen, das verkratzte Tablett mit den unzähligen feinen Rillen, die in alle Richtungen verlaufen. »Er hat es mir an die Kehle gesetzt und wollte mit mir als Geisel da raus.«
Shona sieht ihn sprachlos an.
»Er hat mir geschworen, dass mir nichts passiert. Das Verrückte ist, irgendwie habe ich ihm das sogar geglaubt. Er hätte sich vermutlich eher selbst umgebracht, bevor er zugelassen hätte, dass mir etwas passiert. Trotzdem ⦠Die ganze Situation war völlig auÃer Kontrolle, es war der reine Irrsinn. Ich hatte einfach Angst. Alleine
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