Schnitt: Psychothriller
»Hallo?«
»Hallo. Ich binâs, Gabriel.«
Schweigen.
»David?«
»Bist du irre? Die Polizei war hier, die suchen dich.«
»Ich weië, sagt Gabriel. »Aber sie sind wieder weg, oder?«
Wieder Schweigen. Dann der Türsummer. »Komm rauf.«
Gabriel nimmt den Fahrstuhl. Erneut fällt ihm auf, wie sauber hier alles ist. David steht bereits in der Tür, schmal, blass, grünäugig.
Und jetzt?
»Kann ich reinkommen?«
David mustert ihn, dann nickt er. Irgendwie wirkt er beklommen.
»Du siehst beschissen aus«, sagt David.
»So fühle ich mich auch.«
»Nimmst du irgendwas?«
Gabriel schüttelt den Kopf. »Nein. Ein paar Schlaftabletten.«
David sagt nichts.
»Hör zu«, beginnt Gabriel vorsichtig.
»Ich will nichts wissen«, unterbricht ihn David. »Ich will von deinem ganzen Scheià nichts wissen. Lass mich einfach in Ruhe damit, ja?«
»Okay«, sagt Gabriel. »Ich hab nicht vor, dich zu nerven oder dich von irgendwelchen Geschichten zu überzeugen, die du mir sowieso nicht abkaufst. Ich will dich auch auf keinen Fall in irgendwas hineinziehen, die Dinge sind sowieso schon kompliziert genug zwischen uns â¦Â«
Gabriel sieht David an, dessen grüne Augen sind seltsam indifferent. Er ist misstrauisch, auf der Hut, aber da ist auch noch etwas anderes, etwas, das er nicht einschätzen kann.
»Ich muss etwas wissen. Ich â¦Â«, Gabriel stockt, sucht nach Worten für etwas, für das es keine richtigen Worte gibt. »Du weiÃt, dass ich mich nicht erinnern kann an ⦠die Nacht.«
David nickt kühl. »Du hast jedenfalls immer abgeblockt.«
»Ich weià es wirklich nicht, David. Ich kann mich einfach nicht erinnern. Aber jetzt muss ich es wissen, verstehst du?«
David schaut ihn überrascht an. Offenbar hat er mit allem Möglichen gerechnet, nur nicht damit. »Wie meinst du das? Warum?«
»Frag nicht. Es ist, wie es ist. Ich muss es wissen.«
David lacht bitter auf. Seine Wangen röten sich vor Ãrger, er ringt sichtlich um Beherrschung. »Mein Gott«, stöÃt er schlieÃlich hervor. »Du schweigst dreiÃig Jahre lang. Du beantwortest keine, wirklich keine einzige meiner Fragen und lässt mich im Regen stehen. Und jetzt willst du auf einmal von mir wissen, was passiert ist?« David schüttelt den Kopf. »Ehrlich, ich fasse es nicht! Ich war doch derjenige, der oben im Zimmer eingesperrt war. Ich habe nichts mitbekommen. Und jetzt fragst du mich, was passiert ist? Was, verdammt noch mal, ist mit meinen Fragen?«
»Du hast ja nie gefragt.«
»Zum Teufel«, erwidert David, »du hast doch immer zugemacht. Ich hatte tausend Fragen!«
»Warum hast du sie dann nie gestellt?«
»Ich hab gedacht, ich â¦Â« David stockt und sucht nach Worten. »Ach, ScheiÃe !«, bricht es schlieÃlich aus ihm heraus. »Was glaubst du denn? Ich hatte Angst. Du warst immer so ⦠Ich weià gar nicht, was ich sagen soll. Ich war ein Kind , verdammt. Und du warst mein groÃer Bruder, verstehst du? Ich hatte keinen Vater mehr, keine Mutter, und ich hatte totale Angst, dich auch noch zu verlieren. So wie du immer abgeblockt hast, hab ich gedacht, lass ihn bloà in Ruhe ⦠Du hast immer ausgesehen, als ob du gleich einen Wutanfall bekommst â oder endgültig zusammenbrichst. Davor hatte ich die meiste Angst, dass du zusammenbrichst.«
Gabriel starrt ihn fassungslos an. David hatte versucht, ihn zu schonen? »Das ⦠das hast du nie gesagt.«
»Natürlich nicht. Wie denn auch. Du warst ja völlig weg, bei dir lief die ganze Zeit irgendein Film, bei dem ich nicht mitgekommen bin. Du warst nicht aufzuhalten, auf deinem Trip â¦Â«
»Ich hab dich beschützt, ich hab die ganze Zeit dich â«
» Nein , verdammt«, sagt David. In seinen Augen schimmern Tränen. »Du warst mit dir beschäftigt. Es ging nicht um mich, es ging immer nur um dich. Bei jeder Prügelei, die du vom Zaun gebrochen hast, jedes Mal, wenn du für mich in die Bresche gesprungen bist ⦠Es ging um dich. Ich hab dich nicht darum gebeten ⦠Ich fandâs furchtbar.«
Gabriel schluckt die aufkeimende Wut und die Scham hinunter. In seinem Kopf hämmert es. »Schwachsinn. Vielleicht warst du ja zu klein, um dich zu erinnern ⦠Was ist zum Beispiel mit den
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