Schnittstellen
verstanden, warum mein Exmann zum Trinker wurde, als Muttersöhnchen mit seiner verzärtelnden, an schwerer Krankheit verstorbenen Mutter und seinem grauenhaft autoritären Vater. Verstanden habe ich nur nicht mehr, wieso ein guter Job, ein wunderbares Heim, eine zu ihm stehende Frau und zwei gesunde und dazu noch liebe Kinder ihm keinen Grund boten, vom Alkohol Abstand zu nehmen oder wenigstens eine Beratungsstelle aufzusuchen. Ich verstehe sehr viel, nur nicht, dass Menschen Zustände nicht ändern, über die sie Jahr um Jahr klagen. Wir haben nur ein Leben, und da sollte man doch irgendwie etwas daraus machen. Carp e diem . Die Szene aus dem Club der toten Dichter , als der Lehrer seinen Schülern diesen Sinnspruch zu vermitteln versuchte, fand ich super. Ich verstehe auch viele meiner Schüler, deren Biografie oft alles andere als heiter ist, und finde dann oft, dass sie sich unter den gegebenen Umständen noch tapfer schlagen. Aber mein Kind verstehe ich nicht. Und Meike versteht mich offenbar auch nicht.
Wenn sie schlecht gelaunt herumläuft und ich versuche, das zu ergründen, kann sie zur Furie werden. Sie aufmuntern wollen, bloß nicht! Beruhigen geht gar nicht. Mit Zweiern und Dreiern könnte sie doch zufrieden sein. Was?!? Wie komme ich nur darauf. Die Schule ist für sie die Hölle, ein kalter, abweisender Eisblock, an dessen Kanten man sich nur Verletzungen zuziehen kann. Meikes Verzweiflung und Ratlosigkeit schlägt sich als körperliche, vom Arzt feststellbare Krankheit nieder. Schmerzmittel mildern die Migräneattacken, aber trotzdem muss Meike sie durchstehen, Kopfweh, Übelkeit, Fieber, viel Schlaf. Drei Tage dauert es mindestens, bis ein Anfall vollständig abgeklungen ist. Karls Mutter und sein Bruder werden auch von dieser hinterhältigen Art Kopfweh heimgesucht. Ich frage mich immer, was die wohl bedrückt. So sehr ich auch an eine körperliche Disposition glaube, ich bin davon überzeugt, dass die Psyche mitmischt. Bei Meike ganz sicher. Denn die Migränephasen wechseln nicht mit Phasen der Ausgeglichenheit. Dazwischen ist Angst, Niedergeschlagenheit und Aggression. Ich zermartere mir den Kopf, was Meike betrifft.
Karl ist schon lange ratlos.
Ich werde mich endlich an die Mädchenberatungsstelle wenden, deren Homepage ich schon einige Male angeklickt habe. Als ich Meike davon erzähle, scheint sie nicht so ablehnend wie sonst, wenn ich mit Ratschlägen ankomme.
»Wenn du willst«, meint sie nur.
Meike
Ich finde gut, dass meine Mutter mir helfen will und sich darum kümmert, dass ich in einem Mädchenhaus eine Therapie beginnen kann. Am ersten Tag, als ich dort hin muss, fährt sie mich.
»Mädchenlobby« steht auf einem Schild neben dem Eingang. Klingt gut. Eine junge Frau empfängt uns. Zur Begrüßung reicht sie mir und meiner Mutter die Hand.
»Mein Name ist Bayer«, sagt sie freundlich.
Meine Mutter räuspert sich. »Abens«, stellt sie sich vor, »wir hatten telefoniert.«
Frau Bayer nickt. »Ja, ich erinnere mich gut, und wenn es Ihnen recht ist, würde ich gern mit Meike allein reden.« Sie wendet sich mir zu: »Ich darf doch Meike sagen?«
»Ja, klar«, sage ich. Ich bin erleichtert, wie locker alles geht. Frau Bayer ist nett, sie ist sehr jung, ich hätte nicht gedacht, dass man so jung schon Therapeutin sein kann. Ich kann gut mit ihr reden. Es gefällt mir, mal mit jemand anderem zu reden als den Freunden oder der Familie, die können meist doch nicht viel zu dem sagen, was einen beschäftigt. Ich rede lieber mit jemandem, der Ahnung davon hat, wovon er spricht.
Frau Bayer bittet mich, meine Familienmitglieder als Tiere zu malen. Ich male gern. Als die Therapeutin mich fragt, wieso mein Vater so weit am Rand des Blattes gezeichnet ist, während der Rest der Familie sich eher in der Mitte sammelt, gestehe ich ein, dass ich meinen Vater kaum wahrnehme. Es macht mich unglaublich traurig, ich weine, und es tut mir weh, dass ich so empfinde. Mein Vater tut mir leid. Ich kann nicht erklären, warum er für mich so weit weg ist, und ich habe ein schlechtes Gewissen. Er hat mir doch nie Anlass gegeben, ihn zu ignorieren, er ist doch immer für mich da, wenn ich ihn brauche.
Anja
Ich weiß nicht, was ich von der Mädchenlobby erwarte. Erst einmal bin ich froh, dass Meike dort tatsächlich hingeht. Seit einiger Zeit ahne ich, dass Meike eine Essstörung hat. Sie hungert regelrecht, obwohl sie kaum ein Gramm Fett am Körper hat. Und dann fehlen plötzlich Lebensmittelvorräte. Ich
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