Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schnittstellen

Schnittstellen

Titel: Schnittstellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anja Abens
Vom Netzwerk:
sie unter meinem Kinn und reckt sich nach oben. Sie mag gern meinen Speichel trinken. Kann sie auch ruhig, wobei ich mich ab und zu frage, ob das so gesund für sie ist. Ich sammele immer ein kleines bisschen Spucke und biete sie ihr mit gespitzten Lippen an. Pollys Zunge ist ganz winzig und samtig. Meine Mutter findet das unappetitlich. Keine Ahnung warum, vielleicht denkt sie, dass Pollyanna dreckig ist oder hält es für pervers, Mund an Mund mit einem Tier zu sein. Ich find beide Gründe schwachsinnig. Für mich ist es einfach Vertrautheit oder ein Vertrauensbeweis von meiner Ratte an mich und einer von mir an meine Ratte. Ich würde alles dafür geben, dass Polly für immer und ewig bei mir sein könnte. Die Vorstellung, dass sie eines Tages sterben wird, lasse ich nicht an mich heran. Sie ist etwas Besonderes, sicher irgendein fantastisches Wesen, das mich niemals verlassen wird. So einfach ist das. Ohne sie könnte ich nicht sein, sie macht die Welt und mein Leben liebenswert, weil sie es ist.

3. KAPITEL
    Meike
    Ich will meinen Bruder besuchen, schließlich weiß ich, wo er wohnt, und er hat nichts gegen einen Besuch von mir. Er hat mich allerdings auch nicht darum gebeten. Ich habe seine Telefonnummer nicht, er wollte sie mir nicht geben. Er sagte nur, dass er sich melde. Ich fahre also einfach nach Bonn, ohne ihm das vorher mitzuteilen, wie auch.
    Es tut mir gut, Bahn zu fahren und dabei Musik zu hören. Ich brauche die Musik, und ich brauche die Bewegung der Bahn. Ich hasse es, wenn die Bahn zu lange steht, dann werde ich nervös und aggressiv, genauso ist es, wenn mein Discman nicht funktioniert. Ich hasse den Stillstand; das Fahren hingegen beruhigt mich, weil ich mich von einem schrecklichen Ort an einen besseren oder zumindest an einen Ort, von dem ich erwarte, dass er besser ist, bewege. Fortbewegung ist wichtig für mich, sie gibt mir das Gefühl wegzukommen aus diesem ekelhaften Zustand einer ungewollten Rast. Die Musik unterstützt meine Gedanken an eine andere Welt. Ich tagträume von einer besseren Welt. Keiner friedlichen, rosaroten Welt, in der die Menschen einander lieben und mit Blumenkränzen auf den Köpfen im Kreis umhertanzen. Ich träume von einer Welt, in der es MIR gut geht, in der ICH lachen kann und glücklich bin, es geht nur um mich.
    Ich fahre zu meinem Bruder, weil er mein Bruder ist. Ich kann nicht einmal genau sagen, was ich von ihm will. Will ich wissen, wie es ihm geht? Wie es bei ihm läuft? Will ich, dass er sich erkundigt, wie es mir geht? Nein. Ich möchte mich vergewissern, dass mein Bruder da ist. Sicher sein, dass es ihn gibt. Worüber wir reden ist mir egal.
    Anja
    Wenn Meike sich nicht wohlfühlt, fährt sie oft mit der Straßenbahn und hört Musik. Im Anfang habe ich mir darüber Sorgen gemacht. Wo fährt sie hin, so ziellos? Wer weiß, wem sie begegnet, vor allem, wenn die Touren gegen Abend stattfinden. Aber sie kommt immer wie versprochen zurück. Sie sagt, das Bahnfahren mit Musik entlaste sie. Und wenn sie dabei ein Ziel habe, gehe es ihr noch besser.
    Heute will Meike Marvin besuchen. Sie macht sich auf den Weg nach Bonn, der mindestens eine Stunde in Anspruch nimmt, nur um Marvin zu treffen.
    Wie schon so oft überlege ich, ob ich auch den Kontakt zu Marvin suchen soll, aber wir hatten ausgemacht, dass er sich meldet, wenn er möchte. Und wenn ich ehrlich bin, erleichtert es mich zurzeit, es nicht notwendig zu finden, gegen diese Mauer zu laufen. Immer wieder rätsele ich, ob seine Gefühle verschüttet sind und man eben immer weiter graben muss oder ob er einfach ist, wie er ist: distanziert. Vielleicht Distanz als Selbstschutz. Egal, ich bin froh, dass er diese Distanz Meike gegenüber offenbar nicht hat.
    Allerdings mache ich mir um Meike ernsthaft Sorgen. Sie isst zu wenig, ist blass und schrecklich dünn. Außerdem kapselt sie sich immer mehr ab. Nur die zwei besten Freundinnen lässt sie noch an sich heran. Wenn ich sage, diese oder jene Mitschülerin hat angerufen, wirkt sie gleichzeitig überrascht und ablehnend. So als glaube sie nicht an ein echtes Interesse der Mädchen. »Ich möchte sie aber nicht treffen!«, sagt sie in einem Ton, den ich immer häufiger zu hören bekomme. So voll unterschwelliger Aggression. So aufgebracht. Ich weiß nicht, womit die Mitschülerinnen oder ich diese Ablehnung heraufbeschworen haben. Deshalb bin ich erleichtert, dass sie sich auf den Weg zu Marvin macht. Nach Gesprächen mit ihm wirkte sie meist

Weitere Kostenlose Bücher