Schnittstellen
gelöster.
Diesmal ist es anders. Karl ist schon zu Hause, als die Wohnungstür aufgestoßen wird und Meike an der offenen Küchentür vorbei in ihr Zimmer stürzt. Mein Mann und ich schauen uns an. Bei Meike weiß man nicht, was besser ist, sie allein zu sich kommen zu lassen oder zu ihr zu gehen. Da ihr Verhalten in dieser Situation aber völlig ungewöhnlich ist, beschließe ich, ihr ins Zimmer zu folgen. Meikes Gesicht ist kalkweiß, die Augen rot unterlaufen, und sie scheint keine Luft mehr zu bekommen.
»Was ist passiert?«, frage ich und nehme sie in den Arm. Aber sie beruhigt sich nicht und ringt immer heftiger nach Luft und mir fällt ein Film ein, in dem ein Kind hyperventiliert, und ich versuche, sie zu beruhigen und rufe Karl, dass er mir eine Plastiktüte bringen soll, aber kurz darauf geht die Atemlosigkeit in haltloses Weinen über, das nicht aufhören will. Ich wiege Meike im Arm, küsse ihr Haar und ihre Wangen, die salzig schmecken von den vielen Tränen. Endlich wird sie ruhiger.
»Er hatte keinen Bock, mich zu sehen«, bringt sie heraus und muss wieder weinen.
»Ach, Kind«, sage ich nur und nehme sie wieder in den Arm, denn sonst gibt es für sie keinen Trost.
Meike
Mein Bruder ist angeblich nicht da. Mein Ausflug endet in der ungemütlichen Halle, in der ich an der Rezeption stehe und mit einer Frau rede, die nur deshalb noch einmal zum Telefonhörer greift, weil mir die Tränen die Wangen hinunterlaufen. Nach dem Wählen reicht sie mir das Telefon, damit ich selbst mit Marvin sprechen kann.
»Ich habe keinen Bock, dich zu sehen.«
Ich kann nichts anderes tun, als zu gehen. Ich kann nichts anderes tun, als zu weinen und nicht zu verstehen, was falsch an mir ist. Was ist falsch an mir, dass ich meinen Bruder nicht verdiene? Dass ich den Menschen nicht verdiene, der für mich und für den ich da sein sollte? Was hat mich zu einem Menschen gemacht, der nicht verdient hat, geliebt zu werden? Warum bin ich unwürdig? Ich verstehe das nicht! Warum bin ich wertlos? Wie kann der letzte Halt einfach so verschwinden, die Sicherheit so über einem zusammenbrechen. Wie kann die Erkenntnis über die eigene Person so plötzlich kommen, dass es einen innerlich auseinanderreißt und doch gleichzeitig der ganze Körper so schmerzhaft in sich zusammenfällt, sich zusammenzieht und so stark verkrampft, dass sich die Lunge nicht mehr weiten lässt und man hofft, dass der nächste Atemzug der letzte ist.
Meikes Tagebuch
Ich brauche meinen Bruder. Ich brauche ihn als meinen Menschen auf der Welt, der für mich da ist und für den ich da sein kann. Ich brauche Halt in dieser Welt und Sicherheit. Ich kann mir selbst Freiheit geben, ich kann mir Selbstständigkeit und Unabhängigkeit verschaffen, aber ich kann mir nicht, aus mir selbst heraus, Sicherheit und Akzeptanz vermitteln. Ich sehe mich wie ich mich sehe, ich kann mich nicht sehen, wie ein anderer Mensch mich sieht. Ich bin darauf angewiesen, dass jemand anders mir Zuneigung gibt und mir zeigt, dass ich wert bin zu leben, ich kann doch schlecht mein eigener Spiegel sein. Für mich ist mein Bruder der Mensch meines Vertrauens, der Mensch, dem ich vertraue und dem ich zutraue, mir das Gefühl von Gewolltsein zu vermitteln. Wie sich herausstellte, habe ich damit einen Fehler begangen. Mein Bruder ist nicht für mich da, das weiß ich jetzt, und ich muss damit leben. Aber nicht immer ist Erkenntnis der erste Schritt zur Besserung.
Anja
Ich habe mich getäuscht. Meike vermisst Marvin viel mehr, als ich es jemals erwartet hätte. Ich kann ihn nicht zurückholen, ich kann auch nicht dafür sorgen, dass er die Beziehung zu Meike wichtig findet. Und mir fällt ein, wie sehr mir mein Bruder gefehlt hat, als er wegen seiner Körperbehinderung zur Ausbildung nach Vollmarstein kam. Ich war sechzehn und er vierzehn. Immer hatte ich gedacht, wieso bin ich der Psycho mit den tausend Selbstzweifeln, der so viel auszusetzen hat an der Welt? Wieso nicht Mattes, den eine voranschreitende Muskelkrankheit mit dreizehn in den Rollstuhl zwang? Mir tut heute noch weh, wie sehr er sich dagegen gewehrt hat. Mit dem Fahrrad habe ich ihn zur Schule und bis ins Klassenzimmer geschoben, ehe er schließlich aufgab und sich in sein Schicksal fügte. Und trotz dieses Handicaps war er dem Leben zugewandt und einer der humorvollsten Menschen, die ich je kennen gelernt habe. Ich hingegen war voller Ängste. Und mit ihm konnte ich darüber sprechen. Und dann war er weg. Und mein
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