Schnittstellen
kenne das selbst gut genug und weiß, was los ist. Deshalb habe ich Meike zur Rede gestellt und sie gewarnt, was sie ihrem Körper damit antut. Aber Meike hat nur gebrüllt, ich solle mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern, ich hätte wohl Paranoia. Sie gibt nicht zu, dass sie sich nach Essattacken absichtlich erbricht. Aber mich kann sie nicht anlügen. Doch die Gespräche zwischen uns laufen selten entspannt ab, meist faucht sie mich an, als würden meine Worte sie angreifen, und ich verstehe nicht, wieso das so ist.
Ich hoffe, dass Frau Bayer bei Meike mehr Erfolg hat. Dass jemand anderes ein Stück Verantwortung mitträgt, sich um Meike sorgt, das erleichtert mich ein wenig. Meike hat einen Termin jede Woche, eine Stunde, die sie hoffentlich weiterbringt. Zeit, in der sie nicht allein in ihrem Zimmer sitzt und wer weiß was ausbrütet. Wenn sie von der Mädchenlobby zurückkehrt, ist sie weniger aggressiv und erzählt auch schon mal von ihrer Stunde. Natürlich verrät sie nicht alles, was sie dort bespricht. Aber sie erzählt, wenn etwas Besonderes gewesen ist, egal ob positiv oder negativ.
Letztes Mal allerdings war ich nicht ganz überzeugt von dem Einfluss, den solche Beratungsstellen nehmen. Pollyana war krank gewesen und hatte unerwartet eingeschläfert werden müssen. Für Meike war das ein sehr großer Verlust. Da kam bald die Idee auf, eine neue Ratte für Meike zu kaufen. Aber wir hatten Bedenken. Ein Lebewesen ist nicht austauschbar wie ein kaputter Gegenstand. Außerdem hatte Meike stets Schwierigkeiten mit der Pflege und vor allem der Versorgung ihrer Tiere. Für Anna war immer klar gewesen, dass sie Futter und Streu von ihrem Taschengeld bestreiten musste. Natürlich halfen wir mal aus oder machten ihr eine Freude dadurch, dass wir ihr hin und wieder etwas für die Tiere anschafften, Futter oder ein Spielzeug, aber grundsätzlich war es eben Annas Verantwortung. Meike dagegen sah es als völlig selbstverständlich an, dass wir einsprangen, wenn es an Futter oder Zeit mangelte.
Und hatte Meike nicht genug mit sich selbst zu tun? War eine neue Ratte nicht eine Verpflichtung, die schließlich an Karl und mir hängen bleiben würde? Meike wusste von unseren Bedenken, und deshalb fühlte ich mich überfallen von dem Anruf nach einer Beratungsstunde mit Frau Bayer.
»Hallo, Mama, ich bin’s.«
»Ja, hallo, Schatz, was gibt’s denn?«
»Frau Bayer meint, ich sollte mir unbedingt eine neue Ratte anschaffen.«
»Ja, und weiter?«
»Ich bin jetzt mit Lena in der Zoohandlung, und da gibt’s nur noch eine. Die ist schon ziemlich groß und ein Männchen.«
»Aber du wolltest doch wieder ein Weibchen, wenn überhaupt …«, wandte ich zaghaft ein. Mir schossen die verschiedensten Gedanken durch den Kopf: dass wir noch etwas warten wollten bis zum Kauf eines neuen Tieres, dass es unbedingt wieder ein Weibchen sein sollte, dass Meike ihr Taschengeld schon längst wieder ausgegeben hatte, dass aber die Empfehlung Frau Bayers zu berücksichtigen war und dass man doch nicht so kleinlich sein kann, wenn es Meike helfen würde.
»Was ist Mama, was soll ich jetzt machen?«, tönte es ungeduldig aus dem Hörer.
»Also ich meine, wir sollten es noch mal bereden und uns wenigstens noch in einer anderen Zoohandlung umschauen.«
»Aber Mama! Er ist so süß und so einsam, und wo soll ich denn noch hingehen? Und Frau Bayer hat doch gemeint, es wäre gut für mich.«
»Aber du hast doch gar kein Geld …«
»Lena kann es mir vorstrecken.«
Was sollte ich da noch groß sagen? Hinterher kam heraus, dass Meike die Ratte schon gekauft hatte.
Ich hielt die ganze Aktion für überstürzt.
Meike
Pollyanna ist tot! Es gibt sie nicht mehr! Ich habe den ganzen Tag geheult. Pollyanna war immer für mich da. Ohne mich vollzuquatschen. Überhaupt ohne Worte. Und ich musste genauso wenig mit ihr sprechen. Dennoch habe ich ab und zu mit ihr geredet. Klar verstehen Tiere einen nicht. Aber ich mag den Glauben daran, dass es doch so ist. Dass Tiere einen verstehen, dass sie mitfühlen können. Sie hat auch nie nachgehakt, wie es mir geht, wenn ich mal nichts gesagt habe, wenn ich aus der Schule kam. Ich konnte auf meinem Bett liegen und Pollyanna lief munter im Zimmer umher. Es ist einfach schön, wenn jemand da ist, der einen nicht nervt. Jemanden zu haben, der da ist, ohne Fragen zu stellen und ohne lästigen Kram zu erzählen, ohne einen zu beurteilen oder zu bewerten.
Eine Ratte sagt nicht: »Mein Gott, wie
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