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Schnittstellen

Schnittstellen

Titel: Schnittstellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anja Abens
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siehst du wieder aus!« Eine Ratte sagt nicht: »Was soll das? Wieso guckst du so düster?« Sie lacht einen auch nicht aus, weil einen dieser grimmige Blick angeblich lächerlich erscheinen lässt. Das ist Sache meiner Mutter. Mich auslachen, wenn ich wütend bin. Ich gucke unglücklich, weil ich unglücklich bin. Ich gucke wütend, weil ich wütend bin und in Ruhe gelassen werden will. Was tut meine Mutter? Sie lächelt und macht Scherze über meine verkniffene Miene. Was soll ich machen, wenn ich zornig bin, damit ich nicht ausgelacht werde? Mir Blut von irgendwelchen Menschen, die ich niedergemetzelt habe, ins Gesicht schmieren?
    Polly war immer für mich da. Ich kann mich so deutlich an ihre Gegenwart erinnern. Wie sie isst, trinkt, blinzelt und atmet, ich konnte ihr Herz schlagen spüren, wenn ich sie auf dem Arm hielt. Ich vermisse ihren Blick, der mir sagte: »Du bist nicht allein.«
    Mit Polly war ich nicht allein. Sie war ein liebenswertes Lebewesen und nicht so eine widerliche menschliche Maschine. Ihr Herz schlug und zeigte mir, dass ein schlagendes Herz nichts Schlechtes ist …
    Ich hatte gehofft, dass sie uralt würde. Nicht für eine Ratte uralt, sondern ururalt. Hundert Jahre. Damit sie für immer bei mir sein könnte.
    Jetzt gibt es Polly nicht mehr und ich habe eine neue Ratte. Sie heißt Virus und ist ein Männchen. Er ist süß, er ist einigermaßen zutraulich, aber viel schreckhafter als Pollyanna. Ich weiß nicht, ob es wirklich gut war, eine neue Ratte zu kaufen. Meine Eltern und ich hatten besprochen, nach Pollys Tod erst einmal abzuwarten. Aber dann meinte Frau Bayer, mit einer neuen Ratte hätte ich wieder jemanden, dem ich mich anvertrauen könnte. Das wäre gut für mich.
    Jetzt habe ich aber nicht wieder jemanden, mit dem ich mich wohl und von dem ich mich verstanden fühle, sondern eine neue Ratte. Pollyanna war meine Freundin, Virus ist meine Ratte. Ich weiß nicht, wieso das so ist. Es ist so. Ich kann mit ihm nicht so viel anfangen. Manchmal habe ich gar keinen Bock auf ihn. Ich habe keinen Bock auf die Welt. Polly hat mir gezeigt, dass die Welt schön sein kann. Jetzt ist sie tot. Ich habe keinen Bock mehr auf diese verkackte Welt. Ich habe auch keinen Bock mehr auf die verkackte Therapie. Was soll ich mich großartig mit meinem Bauch verstehen?! Ich soll eine kleine gelbe oder orangefarbene Sonne ungefähr in Höhe meines Bauchnabels fühlen und mich darauf konzentrieren, um scheinbar irgendwie mit meinem doofen Bauch in Einklang zu kommen. Ich habe überhaupt keine Lust, mich mit meinem Schweinebauch zu beschäftigen. Ich ignoriere ihn lieber und wünsche mir, dass er nicht da ist, aber mehr Gedanken will ich nicht an ihn verschwenden. Diese Übung ist echt bescheuert, ich will gar nicht mehr zu dieser dämlichen Therapie gehen. Ich habe keine Lust darauf, das noch mal machen zu müssen.
    Meikes Tagebuch
    Es spricht doch gar nichts dagegen, sich selbst zu verletzen. Ich bin es leid, immer wieder zu erbrechen. Es ist anstrengend, es macht Kopfschmerzen und meine Mutter bekommt die Krise, weil sie ahnt, dass ich mich übergebe. Sie hat mich zur Rede gestellt. Ist ja klar. Es ist ungesund, es ist teuer und es ist nicht normal. Mir alternativ in die Haut zu schneiden wäre vielleicht besser. Das scheinen viele Menschen zu machen, wenn die Hinweise im Internet nicht übertrieben sind. Es gibt auch Chats zu diesem Thema. Die Leute reden darüber, weil sie es selbst tun oder weil sie sich lustig über die machen, die es nötig haben. Meine Mutter muss das nicht erfahren. Es gibt ja langärmlige Klamotten. Ich kann mich an Körperstellen ritzen, die sie ohnehin nicht zu sehen bekommt. Ich werde es ausprobieren. Meine Eltern sind gerade einkaufen gefahren, daher ist es jetzt die beste Gelegenheit.
    Mein Vater hat einen Rasierer, bei dem sich ganz einfach die Klingen entfernen lassen. Doch die Rasierköpfe, die er zurzeit benutzt, kann ich nicht verwenden, das könnte auffallen. Wie scharf solche Rasierklingen wohl sind? Die Vorstellung, dass sich das dünne Metall leicht in die Haut drücken lässt, fasziniert mich. Genau wie letztens das Messer. Ich stand in der Küche. Mir ging es gar nicht gut. Die Schule, die Mitschüler, der Sportunterricht, in dem man von allen begafft wird, das alles hatte mich wütend und total fertig gemacht. Ich stand mit dem Brotmesser in der Hand in der Küche und habe mir vorgestellt, wie es wohl ist, sich die Klinge in den Bauch zu rammen. Ein Messer mit

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