Schnittstellen
glatter Schneide wäre sicher geeigneter, mit den Zacken bleibt man womöglich in der Haut und dem Gewebe hängen, schöner wäre, wenn das Metall glatt durchgeht. Wie der passende Schlüssel in ein Schloss. Das Messer im Bauch, ganz einfach. Und dann sterben. Die Vorstellung gefiel mir.
Ich öffne den Badezimmerschrank und nehme ein Päckchen Rasierklingen heraus. Mit einer Schere entferne ich die Verpackung und trage die Rasierklingen in mein Zimmer. Ich schiebe die Mathematiksachen auf meinem Schreibtisch zur Seite, die Hausaufgaben habe ich sowieso nicht kapiert, und denke: Ich bin dumm, dumm, dumm. Und ich bin fett. Und das Schlimme ist, dass ich beides nicht ändern kann.
Drei Klingen liegen nun vor mir. Eine davon wird schon etwas taugen. Wie stark man die Klinge wohl in die Haut drücken muss, bis Blut austritt? Ich setze die Klinge an meinem Arm an, drücke sie hinunter und ziehe sie gleichzeitig zu mir hin.
Das war nicht so effektiv.
Mein Herz pocht schneller, aber nicht aus Angst oder Unbehagen. Es ist spannend und aufregend. Ein gutes Gefühl. Ich setze die Klinge noch einmal an und drücke diesmal fester zu. Die Wunde blutet ganz leicht. Wie schön. Ich mag Blut. Blut hat eine unglaublich intensive Farbe. Seltsam, dass es so schön und eindrucksvoll ist, während der Mensch selbst so hässlich und unbedeutend erscheint.
Ich mag mein Blut, und ich mag den Gedanken daran, dass es durch meinen Körper fließt, in geregelten Bahnen, und dass ich es ganz einfach dazu bringen kann, auszutreten. Ich schneide mich noch ein paarmal, nicht sehr tief, nur die letzten beiden Male mit mehr Druck. Eine interessante Erfahrung, auf jeden Fall. Ich fühle mich jetzt besser als vorher. Man schneidet sich ein paarmal in den Arm und hat das Gefühl, dass viel Last von einem abfällt, nur dadurch, dass man sich ein bisschen geöffnet hat. Aber gut, ich frage mich nicht, wieso es so ist, es ist nur gut zu wissen, dass es funktioniert.
Kurz darauf nehme ich Geräusche an der Wohnungstür wahr. »Wir sind wieder da!«, höre ich meine Mutter rufen.
Ich lege die Rasierklingen in meine Schreibtischschublade, ziehe den Ärmel meines Pullis über den Arm und öffne meine Zimmertür.
»Hallo, habt ihr alles bekommen, was ihr wolltet?«
Anja
Eigentlich könnte alles in Ordnung sein. Ich könnte mich meinen Angelegenheiten widmen, vorrangig der Schule. Als Lehrerin habe ich einen Beruf, der Geld bringt und den ich trotzdem leiden kann. Als Kauffrau wäre ich irgendwann in einer Klinik gelandet, denn als Kauffrau hat man ständig mit Geld zu tun, und Geld war immer schon mein Feind. Dazu den ganzen Tag in einem Büro eingesperrt zu sein, das halte ich auch nicht aus. Früher habe ich mir ständig an den Kragen gefasst, um festzustellen, dass er nicht zu eng sitzt, aber er war es nicht, der mir die Luft abschnürte. Dass ich das Thema Geld lieber meide, hat seine Wurzeln in meiner Kindheit. Wenn meine Eltern stritten, stritten sie sich um Geld. Und das, obwohl wir ein Dach über dem Kopf hatten und genug zu essen und sogar manchmal in Urlaub fahren konnten.
Neben meinem Geldjob brauche ich regelmäßig Zeit zum Schreiben meiner Bücher. Vor allem das Überarbeiten ist anstrengend, weil es oft im Schweinsgalopp durchgezogen werden muss, wenn der Drucktermin naht. Aber immerhin bringe ich auch diesmal den Krimi zu Ende. Das ist wichtig für mich. Wenn ich nicht schreibe, geht es mir nicht gut.
Zurzeit scheint endlich einmal alles geordnet und im Fluss zu sein. Wenn nicht die ständigen Streitereien mit Meike wären. Sie benutzt Worte, die ich meinen Eltern gegenüber nicht einmal gedacht habe. Ich weiß nicht, was Meike gegen mich hat. Ich lasse die weisen Worte von Psychologen und Erziehungsberatern wie auf Spruchbändern vor meinem inneren Auge ablaufen. Mädchen müssen sich von ihren Müttern abgrenzen. Abnabelung ist ein schmerzhafter Prozess … »Lass sie doch einfach mal in Ruhe«, sagt unser bester Freund. Aber Meike will gar nicht in Ruhe gelassen werden, denn wenn Ruhe herrscht, wenn Karl und ich einen Kaffee zusammen trinken, im Arbeitszimmer sitzen oder den Tatort sehen möchten, hat Meike immer irgendetwas, womit sie uns stören kann. Entweder hat sie eine Frage zum Computer oder zu den Hausaufgaben.
Karl erfüllt Meikes Anliegen, die an ihn gerichtet sind, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich denke dann oft, warum sagt er nicht, dass er sich nach einem langen Arbeitstag gerade ausruht und zwischen Abendbrot und
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