Schnittstellen
Alleinsein nahm eine Dimension an, die mein Leben verdunkelte. Mit meinen Eltern konnte ich nicht reden.
Kann Meike nicht mit uns reden? Ich dachte immer, Karl und ich hätten alles getan, damit unsere Kinder uns vertrauen. Was haben wir versäumt?
Ich erinnere mich, wie Jonas als Teenager einmal nach Hause kam und aufgebracht äußerte: »Mama, wir sind viel zu moralisch. Draußen die Welt ist nicht so. Du weißt gar nicht, wie es in der Welt aussieht!«
Ich habe ruhig geantwortet: »Natürlich weiß ich, wie es in der Welt aussieht, aber ich will es so nicht haben!«
Und ich denke an Anna, welche Sorgen ich mir gemacht habe, wenn sie am Wochenende ausging. Und an ihr übersteigertes Helfersyndrom. Immer wieder schleppte sie junge Leute an, denen es schlecht ging. Die freuten sich über eine Mahlzeit und ein offenes Ohr. In diesem Punkt sind Karl und ich uns ähnlich. Fremde Personen vertrauen uns alles Mögliche an. Soweit es in unseren Kräften steht, helfen wir auch. Und Anna ist da noch extremer. Und ich denke, kein Wunder, dass sie mit Andreas zusammen ist, der ist auf jedem Gebiet hilfsbedürftig, alles muss Anna regeln und wird dafür noch belogen. Und mir kommt der Gedanke, dass ich einen Abdruck in mir habe, eine Matrix, die in potenziertem Ausmaß meine Kinder prägt. Meine Selbstzweifel, mein Weltverbesserersyndrom. Ich schaue bei meinen Mädchen in einen überdimensionalen Spiegel. Wie kann das sein? Meine Eltern haben völlig andere Prioritäten gesetzt als Karl und ich. Karl zeigt zum Glück kein Suchtverhalten wie mein Vater, der uns durch seine Spielerei an den Rand des Ruins gebracht hat, oder mein Exmann, dessen Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit zu seinem frühen Tod geführt hat. Wir versuchen alles anders und besser zu machen, welche Fehler unterlaufen uns dabei?
Meikes Tagebuch
R . I . P .-|-LaSsT.mIcH.sTeRbEn.-|- R . I . P .
Lasst mich sterben … so simpel formuliert klingt diese Bitte ziemlich unsinnig.
Wieso auch sollte ich darum bitten zu sterben? Wenn ich es wollte, würde ich es einfach tun, und niemand könnte mich aufhalten. Doch wie alle Dinge im Leben geht auch das Sterben nicht so leicht, wie man es vielleicht gern hätte. Es gibt mehrere Dinge, die einen zurückhalten, und die meisten spielen sich wohl in einem selbst ab. Natürlich kommen die Einflüsse auch von außen. Aber das Leben an sich könnte mir nichts bieten, nichts, das ich dem Tod vorzöge. Was mich aufhält:
✽ Die Angst
… vor den Schmerzen des Sterbens.
Der Tod an sich macht mir keine Angst. Für mich kommt nach dem Sterben gar nichts mehr. Keine Schmerzen, kein Leiden, keine Enttäuschungen, aber auch keine Freude, keine Liebe, kein Glück. Das große NICHTS . Dann existieren wir nicht mehr.
✽ Die Hoffnung
… auf ein schönes Leben.
Was, wenn sich mein Leben doch noch ändern würde? Wenn ich eines Tages glücklich sein könnte? Würde ich es dann nicht bereuen?
Obwohl … wenn ich tot bin … was kümmert es mich!?
✽ Das Gewissen
… gegenüber Freunden und Familie.
Meine Eltern, meine Geschwister, meine gesamte Familie, meine Freunde, meine Bekannten, meine Tiere … würde mein Tod sie nicht traurig machen? Aber wieder ist es das Gleiche: Wenn ich tot bin, kann es mir egal sein.
✽ Die Vernunft
… ich habe nur ein Leben.
Ich habe nur dieses Leben … oder?! Was also, wenn ich es zu früh wegwerfen würde. Das wäre doch dumm, sterben tu ich doch so oder so irgendwann, also kann ich es auch weiterhin versuchen.
Eigentlich könnte man alle diese Gründe mit einem Satz zunichte machen:
Was kümmert mich das Leben, wenn ich TOT bin?!
Doch danach zu leben, zu denken, schafft man nicht.
Deshalb bin ich in gewisser Weise dazu gezwungen, weiterhin auf diesem Planeten umherzukriechen, lechzend nach dem Ende, das ich mir so leicht selbst bringen könnte. Ich werde mich hochziehen an kleinen glücklichen Momenten, die so schnell verstreichen, wie das Licht schnell ist. Genauso werde ich mich runterziehen lassen von schmerzhaften Momenten, die so lange anhalten, dass sie selbst die Endlosigkeit in den Schatten stellen.
Und jeden Tag, den ich hier friste, leide, muss ich über mich ergehen lassen.
Anja
Ich verstehe nichts mehr. Das will etwas heißen. Denn eigentlich bin ich ja die große Versteherin. Ich habe verstanden, warum mein Vater kein guter Vater sein konnte. Seine Mutter starb, da war er ein Jahr alt. Dann hatte er eine schreckliche Stiefmutter und und und …, ich habe auch
Weitere Kostenlose Bücher