Schnittstellen
dorthin fliegen. Ich bin noch nie geflogen, ich habe also keine Ahnung, ob ich Angst haben werde oder nicht. Ich freu mich auf das Meer und vor allem darauf, etwas mit Carina zu machen. Mal fortzukommen von zu Hause. Kein Wechsel ins Heim, aber immerhin drei Wochen weg. Carina hat erzählt, dass das Meer nur wenige Meter von dem Ferienhaus entfernt ist und wir, so oft wir wollen, schwimmen gehen können, lediglich einen Sandstrand gäbe es nicht. Das stört mich nicht, ich kann auch auf Steinen sitzen. Auf Fehmarn war das auch so. Schwimmen werde ich so viel wie möglich, Schwimmen ist Sport, und ich sollte schon etwas Sport machen. In der Schule hasse ich Sport, aber meine Mutter gibt mir keine Entschuldigung. Sie sagt, das sei schlecht, wenn man als Jugendlicher mit dem Sport aufhöre, bei ihr war das so. Dass sie immer meint, was für sie galt, gilt auch für mich, nervt. Ich bin doch eine eigene Person. Immerhin brauchte ich nicht mehr zum Kunstradfahren. Ich mag Vereine nicht, ich hasse diese Vereinssportkacke. Da muss man Turniere mitmachen und wird von den anderen ausgelacht, wenn man etwas nicht kann.
In der Türkei wird es sicher super. Langeweile ausgeschlossen. Langeweile kann ich zurzeit gar nicht gebrauchen. Zu Hause langweilt mich vieles. Vor allem in den Ferien. Wenn ich nicht weiß, was ich mit der vielen freien Zeit anfangen soll, dann esse ich, und das will ich nicht. In der Türkei werde ich kaum etwas essen, das funktioniert dort bestimmt leichter als hier.
Anja
Karl und ich sind happy. Zum ersten Mal, seit wir zusammen leben, haben wir ein paar Urlaubstage ganz für uns gehabt. Dadurch, dass ich Jonas und Anna mit in unsere Ehe gebracht habe, hatten wir keine Phase ohne Kinder, waren also bisher niemals nur zu zweit. Und jetzt konnten wir spontan entscheiden, wonach uns beiden der Sinn stand. Lange frühstücken, schwimmen gehen, wandern oder einfach nur faulenzen. Wir haben uns richtig gut erholt. Nun stehen wir in der Ankunftshalle des Flughafens und hoffen, dass Meike genauso erholt aus der Türkei zurückkommt. Sonne und Meer, da muss sie doch frisch aussehen. Der Flug aus Istanbul landet pünktlich, und gespannt schauen wir auf die Türflügel der Abfertigung, die sich immer wieder öffnen und die unterschiedlichsten Reisenden ausspucken. Und dann sehen wir sie, Ulla, Carina und Meike. Meike in schwarzen, knielangen Shorts und einem hellen ärmellosen Shirt. Sie sieht wesentlich blasser und dünner aus, als ich erwartet habe. Erst schließe ich mein Kind in die Arme und dann Carina und Ulla. Auch Karl drückt alle drei, seine Tochter natürlich besonders. Als wir zum Parkplatz gehen, nutzt Ulla die Zeit, die wir allein nebeneinander herlaufen, für ein paar Worte, die ihr wohl sehr am Herzen liegen. »Weißt du, es war alles wunderbar«, meint sie, »aber Meike hat so unglaublich wenig gegessen. Da musst du ein Auge drauf haben«, sagt sie mit Nachdruck. Deutlich spüre ich ihre Erleichterung, als sie erfährt, dass das schon länger Thema für uns ist. »Ich hatte gehofft, die Gespräche bei der Mädchenlobby und das gute Ende des Schuljahres würden uns weiterhelfen, aber offensichtlich ist das nicht der Fall«, erkläre ich niedergeschlagen.
Ulla fühlt mit mir, aber sie ist froh, dass wir überhaupt bemerkt haben, dass etwas nicht stimmt. »Ihr kriegt das schon hin«, sagt sie zum Abschied.
Ich wundere mich wieder einmal, wie schnell ich Problemlösungen für andere Menschen auf den Weg bringen kann – meine Schüler schildern mir den Fall, und ich habe eine Idee. Nur bei Meike bin ich ratlos. Hoffentlich hat sich ihre Seele auf der Insel vor der türkischen Küste ein wenig erholt, wenn sie schon ihren Körper unter strenger Kontrolle gehalten hat. Ich bin unendlich traurig, dass auch der Urlaub völlig fern von Elternhaus und Schule für Meike keine wirkliche Änderung in der Einstellung zu sich selbst gebracht hat.
Nach den Ferien sind die Panik und die Migräneattacken vor Klausuren sogar noch heftiger. Wir führen intensive Gespräche mit der Klassenlehrerin und der Schulleitung. Man macht Meike das Angebot, die Klausuren allein in einem gemütlichen Raum neben dem Schulleiterzimmer zu schreiben. Es gibt andere Schüler, die ähnliche Probleme haben wie Meike und denen diese Maßnahme geholfen hat. Meike findet diese Möglichkeit aber noch schlimmer, als mit ihren Klassenkameraden in einem Raum zu schreiben. Meike, die bis zum neunten Schuljahr so gut wie nie in der Schule
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