Schnittstellen
nur einen Freund, der ebenfalls keinen Alkohol trinkt und nichts von Partys hält, noch weniger als ich.
»Weiß auch nicht, wieso ich hergekommen bin, einfach wegen Marco, glaube ich«, schreit er gegen die Musik an.
»Geht mir auch so«, schreie ich zurück. »Eigentlich wollt ich gar nicht. Aber Marco ist mein bester Freund, ich hab mich belabern lassen.«
»Was machst du denn so?«
Ich zucke die Schultern. »Nicht viel. Chatten … Musik hören … Lesen …«
Marcos Freund rückt interessiert näher, aber dann stürzt ein betrunkener Exklassenkamerad zwischen uns auf den Boden und fängt an, mich vollzulabern. Ich habe kein Wort verstanden. Marcos Freund ist auf einmal weg. Und ich würde auch gern gehen, aber ich kenne den Weg zum Bahnhof nicht. Ursprünglich wollte ich mit einigen anderen bei Marco übernachten, aber dann halte ich das Herumstehen und Wassertrinken nicht mehr aus. Ich wühle mich durch die besoffenen Partygäste, bis ich endlich Marco gefunden habe.
»Ist mir peinlich«, sage ich, »aber ich möchte nach Hause.«
»Willst du doch nicht übernachten?«
Ich schüttele bestimmt den Kopf.
»Okay. Ich bring dich zum Bahnhof.« Marco schaut mich an und guckt richtig lieb, obwohl ich ja voll die Umstände mache.
»Ich freu mich, dass du überhaupt gekommen bist. Ich weiß ja, wie du Partys hasst.«
Ich bin Marco sehr dankbar und rechne ihm hoch an, dass er mich zum Bahnhof bringt. Der Abend hat mir mal wieder bestätigt, dass ich Feten einfach nichts abgewinnen kann, und das bleibt sicherlich auch in Zukunft so.
Anja
Begeistert war Meike nicht von der Party. Aber enttäuscht auch nicht. Es war, als wäre sie nur in einem Urteil bestätigt worden. Außerdem fand sie es sehr nett von Marco, dass er sie noch mit dem Roller zum Bahnhof gebracht hat. Wie viel er getrunken hatte, hab ich lieber nicht gefragt. Aber vielleicht legt er gar keinen Wert auf Alkohol. Meike ist da sehr kategorisch. Sich besaufen findet sie unmöglich. Karl und ich trinken nicht viel. Dazu muss gesagt sein, dass uns auch schon ein, zwei Gläschen reichen, um in ausgelassene Stimmung zu kommen. Manchmal denke ich, Meike ist zu diszipliniert, und ich versuche, ihr nahezubringen, dass sich hin und wieder etwas gehen lassen auch gut tun kann. Einfach mal locker sein, das braucht doch jeder.
Ich finde Sport ein sehr gutes Mittel, um aufgestaute Gefühle loszuwerden. Oder eine Aufgabe, die einen so fasziniert, dass man seine ganze Kraft hineingibt. Mit dem Sport ging es bei Meike so lange gut, wie sie keine Probleme hatten, sich anderen in Sportzeug zu zeigen. Nach wie vor ist es mir ein Rätsel, wodurch dieses falsche Selbstbild entstanden ist. Das hässliche Bild von sich selbst. Und ich denke, Meikes Explosionen kamen nicht von ungefähr. Weder die Wutanfälle noch die Sache mit dem Schneiden, wo sonst hatte sie ein Ventil, um alles rauszulassen, was sie bedrängte? Sie hat sich keines erlaubt … und klar ihrer Verachtung Ausdruck gegeben über Menschen, die sich nicht im Griff haben, egal auf welchem Gebiet. Sie verabscheut Schwäche und bewundert Stärke. Aber diese Stärke muss in jeder Hinsicht makellos sein. Und sie glaubt nicht, dass es so jemanden gibt. Na ja, ich fürchte, da hat sie recht. Wie Menschen Stärke und Macht ausüben, zeugt viel zu oft nicht von moralischer Größe. Was uns vorgemacht wird von Politikern, Wirtschaftsträgern und anderen VIP s entspricht wenig einer Ethik, die wir unseren Kindern nahebringen wollen und sollen. Haben die Jugendlichen nicht recht, wenn sie den Eindruck haben, die Menschheit sei es nicht wert?
Meike
Meine erste Leiche. U-hu.
Heute fahre ich mit Herrn Kuckensiel zum Krankenhaus, um »jemanden« abzuholen. Die Autofahrt ist in Ordnung, obwohl mir die Wahl des Musiksenders eher nicht passt, aber meine Güte, man kann nicht alles haben. Wir unterhalten uns, aber es ist nicht so beklemmend, wie ich es erwartet habe, vielleicht weil ich weiß, dass ich mich über einen längeren Zeitraum damit arrangieren muss, wenn ich das Praktikum zu Ende machen möchte. Außerdem ist Herr Kuckensiel nett, er wirkt recht locker und freundlich. Ein wenig streng allerdings auch. Solange er mich nicht für Dinge anmotzt, für die ich nichts kann, ist das in Ordnung.
Ich bin gespannt, ob es mir tatsächlich leichtfällt, einen Toten anzufassen. In der Vorstellung ist es doch etwas anderes. Vielleicht habe ich doch Berührungsängste. Schätze ich mich richtig ein? Als wir am Krankenhaus
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