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Schock

Titel: Schock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hunter Evan
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noch immer gestört, doch die Panik war gewichen – er war fähig, zwischen den einzelnen Schmerzwogen, die gegen seine Schläfe brandeten, den Flur gelassen zu mustern. Er kam ihm vertraut' vor. Die Briefkästen draußen, die nackte Glühbirne – war dies nicht der Flur, durch den …
    Langsam stemmte er sich hoch. Hinter dem verschwommenen Bild dieses Flurs versuchte er sich den Flur vorzustellen, an den er sich erinnerte, durch den Grace ihn am frühen Abend geführt hatte. War das nicht die gleiche Tapete? War nicht gerade dort ein Fleck gewesen? Und der Riß im Treppenläufer – hatte er ihn nicht auch schon einmal gesehen? Vorsichtig legte er die Hand aufs Geländer und begann hinaufzusteigen. Er wußte nicht mehr, auf welchem Stockwerk sie wohnte, irgendwo hoch oben war es gewesen, vielleicht im vierten Stock, vielleicht noch höher. Die Geräusche des Lebens drangen wieder in sein Bewußtsein. Sie drangen hinter geschlossenen Türen hervor, gedämpft und doch von Leben zeugend. Auf dem Vorplatz des vierten Stocks hielt er inne und musterte die geschlossenen Türen ringsum. Vier Wohnungen; in einer von ihnen tönte ein Fernsehgerät. In einer anderen wurde gehustet. Er klopfte an die nächste Tür.
    Eine Frauenstimme fragte: »Wer ist dort?«
    Frag mich nicht ausgerechnet danach, dachte er. Um Himmels willen, frag mich nicht ausgerechnet danach! »Grace?« sagte er. »Bist du das, Grace?«
    »Hier wohnt keine Grace, Mister«, sagte die Stimme.
    Er klopfte an die danebenliegende Tür, wartete, während sich von innen Fußtritte näherten; dann öffnete sich die Tür, und eine alte Frau in einem Morgenrock spähte auf den Vorplatz hinaus. Er murmelte Entschuldigungen, klopfte an die nächste Tür und an die übernächste; beide Türen öffneten sich fast gleichzeitig, fremde Gesichter starrten ihn an. Er entschuldigte sich, machte kehrt, faßte das Geländer und rannte zum fünften Stock hinauf. Dort klopfte er schnell hintereinander an sämtliche Türen, von einer zur anderen stürmend, ohne auf Antwort zu warten; stand dann mitten auf dem Vorplatz, während sich rings um ihn Türen öffneten. Lass mich ein, dachte er, lass mich wieder ein; er starrte in die fremden Gesichter auf dem Vorplatz, packte dann das Geländer und stürzte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, zum sechsten Stock hinauf. Wenn ich aufs Dach komme, ohne sie gefunden zu haben, dachte er, springe ich auf die Straße hinunter. Die eine Tür wurde von einem kleinen Jungen im Bademantel geöffnet, eine andere von einem hochgewachsenen Mann im Unterhemd, die dritte von einer Frau mit Fettcreme im Gesicht. Schließlich klopfte er an die letzte Tür und lehnte sich gegen den Pfosten. Als sich die Tür öffnete, wagte er zuerst nicht, aufzuschauen. Dann hob er die Augen, und sie stand vor ihm.
    Sie trug einen Flanellpyjama, ihr Haar hing strähnig um ihr Gesicht, auf ihren Wangen glitzerten Tränenspuren. An den Falten um Augen und Mund, der Schlaffheit ihrer Brüste und dem leichten Hervortreten ihres Bauches unter der Pyjamahose sah man ihr Alter. Doch sein Sehvermögen war noch immer gestört, er sah Grace zweimal nebeneinander in der offenen Tür stehen, die eine von beiden hatte langes, blondes Haar und helle Augen, und er lächelte sie an und sagte: »Beinahe hätte ich dich verloren, Grace! O Gott, beinahe hätte ich dich verloren!«
    »Du hast mich verloren«, erwiderte sie.
    »Wie …«
    »Die Party ist vorbei«, sagte sie und schlug die Tür vor ihm zu.

18
    Ein kühler Wind wehte vom East River herüber.
    Er trat auf die Straße hinaus und ging entschlossen dem Wind entgegen, zum Fluss hinüber. In seinem Kopf pochte es, die lange, menschenleere Straße vor ihm erschien wie doppelt belichtet, die Straßenlampen wirbelten intermittierende Lichtmuster – dunkle Strecken, dann wieder verschwommenes Licht. Er fühlte den Wind kühl auf Wangen und Mund. Er brauchte Zeit zum Nachdenken. Solange es derart in seinem Hirn hämmerte, konnte er nicht nachdenken. Der Wind am Fluss würde sein Gesicht kühlen, der Kopfschmerz würde vorübergehen, und dann konnte er in die Wohnung zurückkehren und sanft mit ihr reden, durch die hölzerne Tür hindurch, bis sie die Klinke drückte, die Tür öffnete, ihn wieder in ihr Leben ließ. Nicht eine Sekunde lang konnte er glauben, daß alles vorbei war. Schon zu hundert Malen hatten sie sich wütend gestritten, Tausende von Türen hatte sie vor ihm zugeschlagen, und dennoch konnte es nicht vorbei

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