Schock
sein; es konnte nie vorbei sein.
Es war kalt am Fluss.
Die Brise, die er gesucht hatte, war ein rauer, scharfer Wind, der zornig über das Wasser pfiff und kleine Wellen gegen die Duckdalben klatschen ließ. Er stellte den Jackettkragen auf, stieß die Hände in die Taschen und ging stadtaufwärts. In der Ferne sah er, im Nebel vor dem Himmel hängend, die Lichter der Triboro Bridge. Weil er noch immer nicht richtig sehen konnte, blieben alle Gegenstände matt und unscharf; die Lichter der Brücke schwammen an einem seltsam wattigen Himmel, die Wolken schienen fast schwarz, Randall's Island und North Brother verloren die perspektivische Ferne, ein Bagger auf dem Fluss pumpte fast synchron mit dem Pochen seiner Schläfe, seine Silhouette erschien vor näheren, verschwommenen Lichtern. Am Horizont hing Hell Gate, halb verhüllt. Er trat an das Eisengeländer am Flussufer, zitternd vor Kälte, und beobachtete die Lichter in der Ferne. Die Luft war klar, doch ihm war, als watete er durch Nebelschichten und träte mit jedem Schritt sanft und leicht auf eine weiche Wolkenbank, die seinen Fuß widerstandslos bis zum Knie einsinken ließ.
Er war allein am Fluss.
Die Geräusche der Straße blieben fern und unpersönlich. Weil seine Füße in tiefe Nebelschichten einsanken, hörte er nicht einmal seine eigenen Schritte. Weil das Pochen in seiner Schläfe mit dem monotonen Rhythmus der Baggerpumpe zusammenfiel, hörte er weder das eine noch das andere, das Gehen fiel ihm leicht, er trieb sanft in einer linden Luftströmung, die ihn, ohne ihn bewußt zu lenken, einem halbverstandenen Ziel entgegenschwemmte.
Er ging zur Schneiderwerkstatt seines Großvaters.
Er schaute zum Straßenschild auf der anderen Seite des East River Drive hinüber und sah, daß er schon auf der Höhe der Hundertsten Straße angekommen war. Er beschleunigte seinen Schritte nicht. Es war ein leichtes und sanftes Dahintreiben, schon war das Baggergeräusch hinter ihm, er passierte die Benjamin Franklin High School und dann die Hundertsechzehnte Straße und ging, obwohl er wußte, daß die Schneiderwerkstatt an der First Avenue, kurz vor der Hundertsiebzehnten Straße lag, über die Hundertsiebzehnte hinaus bis zur Hundertzwanzigsten Straße. Er überquerte die Fahrbahn und die Pleasant Avenue und sah vor sich, in der Mitte des Straßenblocks, das Schild: Public School 80. Er wechselte auf die Straßenseite hinüber, an der sich die Schule in der Dunkelheit duckte.
Dann blieb er auf dem Gehsteig stehen.
Er sah an der Schule hinauf und versuchte sich daran zu erinnern, daß er sie als Junge besucht hatte. Wie hatten sie ihn damals genannt, wie hatte er geheißen? Er konnte sich an Miss Taxton erinnern und daran, daß sie ihn und einen anderen Jungen der Klasse 2 A einmal an einem Samstagvormittag zum Essen in ihr Haus in Larchmont mitgenommen hatte; sie hatten auf der großen Sandsteinterrasse hinter dem Haus einen Golfball springen lassen, und für ihn war es das größte Haus der Welt gewesen. Er konnte sich an Mrs. Flynn erinnern, lang und hager wie ein Bohnenstange, und an die hitzige Auseinandersetzung, die er im Jungenclub an der Hundertelften Straße, in dem jeden Freitagnachmittag der Schwimmunterricht stattfand, mit ihr gehabt hatte. Er konnte sich an Mrs. Davidstein und ihren Unterricht über Mexiko erinnern, für den er das Bild eines weißgekleideten Bauern gezeichnet hatte, der vor einer fahlgelben Mauer Mittagsschlaf hielt; er wußte noch, daß er damals den spanischen Text zu Cielito Lindo gelernt hatte. Seine liebste Lehrerin war Mrs. Harnig gewesen, eine massige Frau, seiner Mutter sehr ähnlich, die »zum Teufel« sagte, sooft etwas nicht klappte, und die bei jener Auseinandersetzung mit Mrs. Flynn im Jungenclub seine Partei ergriffen hatte. An alles das konnte er sich erinnern, nur seinen Namen wußte er nicht mehr. Er wußte noch, wer er gewesen war – doch er konnte sich nicht erinnern, wer er war.
Er ging an der Schule vorbei zur First Avenue hinüber. Er überquerte den Fahrdamm, blieb an der Ecke stehen und sah zur Second Avenue hinüber, wo früher die Eisenkonstruktion der elektrischen Hochbahn gestanden hatte. Kaum, daß er die Straße wieder erkannte. Auf der First Avenue bog er nach links ab (das italienische Lokal war noch an der Ecke) und wanderte wieder stadtabwärts – die gleiche Strecke, die er jeden Nachmittag nach Schulschluss zurückgelegt hatte (den Kohlenhof an der anderen Straßenseite gab es auch nicht
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