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Schock

Titel: Schock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hunter Evan
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wieder zu finden, dachte er, die auf dem Tisch Kaffee verschütteten und sich dann lachend auf dem Fußboden gewälzt hatten – das war das Geheimnis! Das Geheimnis war, den Mann wieder zu finden, der er noch am Nachmittag gewesen war, den Mann, rein und wie neugeboren, der in einem herbstlichen Park ein jungfräuliches Mädchen getroffen hatte. Er beschleunigte seine Schritte. Bis auf ein paar späte Spaziergänger war die Third Avenue menschenleer; seiner Schätzung nach war es ungefähr ein Uhr früh. Ihn durchrieselte das gleiche Gefühl wie am Central Park South, gleich nachdem er das Plaza-Hotel verlassen hatte, als die Welt noch leer war und die Vögel ihm ihre schrille und berauschende Musik in die Ohren trillerten. Er rannte auf dem Gehsteig weiter. Dann sah er das Mietshaus in der Mitte des nächsten Straßenblocks, grinste und rannte noch schneller. Er wollte es gerade betreten; doch dann blieb er auf der Vortreppe stehen, sah auf die Hausnummer über der Tür und begriff plötzlich, daß er Graces Adresse nicht wußte.
    Augenblick, dachte er, das war …
    Augenblick. Ich glaube, es fing mit einer Neun an.
    Einen Moment noch.
    Hier fangen die Hausnummern alle mit Dreizehn an, siehst du, es kann also keine Neun gewesen sein; hast du überhaupt, als du hineingingst, auf die Hausnummer geachtet? Doch halt, in der Nähe war ein Spirituosengeschäft, nicht wahr? War da nicht ein Spirituosengeschäft ein paar Straßenecken weiter? Himmel, wieviel Spirituosengeschäfte mag es an der Third Avenue geben – war es überhaupt ein Spirituosengeschäft? Doch, natürlich. Aber war da nicht auch eine Bäckerei im Erdgeschoß? Oder ein Schreibwarenladen? Moment, es kann auch eine zoologische Handlung gewesen sein oder eine Gastwirtschaft. Vielleicht auch eine Pizzeria. Es kann …
    Es ist nur, Grace, daß du nicht …
    Hier fangen alle Nummern mit Dreizehn an – war es Dreizehn-neun-und-noch-etwas? Nein, es …
    Einen Augenblick noch, bitte, die Adresse liegt mir auf der Zunge; Unsinn, was soll das heißen, du hast die Adresse nie gewußt! Grace, die ganze Welt liegt mir auf der Zunge, ihr System kann uns nicht hindern, eine Minute noch, dann weiß ich alles wieder, bitte, mach keine Dummheiten. Und plötzlich brandete eine Woge von Panik in ihm auf, so gewaltig, daß er sich gegen den Türpfosten lehnte, die Augen schloß und mit pochendem Herzen und zitternden Knien dastand; im gleichen Moment begann es in seinem Kopf zu hämmern, und er wußte, daß ihm wieder ein Migräneanfall bevorstand.
    Anfangs weigerte er sich, die Augen zu öffnen. Er weigerte sich, sie zu öffnen, nur um zu sehen, daß die Welt wieder vor seinen Augen verschwamm; nicht gerade jetzt, da er einem Neubeginn so nahe war, nicht gerade jetzt, da er wußte, daß alles in Ordnung sein würde, wenn es ihm nur gelang, zu Grace zurückzufinden. Und dennoch riß er die Augen auf. Er hatte keine Zeit zu verlieren. Schließlich ging es darum, das Haus, in dem sie wohnte, zu finden, bevor sein Sehvermögen ernstlich gestört war. Hier in der Nähe war es doch gewesen, nicht wahr? Vor knapp drei Stunden war er in dieser verdammten Wohnung gewesen – sie konnte doch nicht einfach verschwunden sein!
    Schnell ging er die Straße hinauf; sein Kopf begann zu pochen, sein Sehvermögen konnte jeden Moment schwinden. Er wußte, daß er sich auf der richtigen Straßenseite befand; dennoch erblickte er nichts, das ihm auch nur vage vertraut schien. Zuerst war er sicher, zu weit nach Norden geraten zu sein; dann war er sicher, daß er noch nicht weit genug gegangen war; schließlich war er sicher, daß er in die falsche Richtung ging. Er begann sich zu fragen, ob sie überhaupt an der Third Avenue wohnte – war es nicht vielleicht die Lexington oder Madison Avenue? Doch während er weiterging, stieg langsam Hoffnung in ihm auf: er begriff, daß er im Grunde nur im Telefonbuch nachzusehen brauchte – Grace MacCauley, das war ihr Name. Er brauchte nur nachzuschlagen, um ihre Adresse zu finden. Fast wäre er in einen nachts offenen Süßigkeitenladen gegangen; doch dann fiel ihm ein, daß sie Jüdin war. Wie konnte ein jüdisches Mädchen Grace MacCauley heißen? Wie konnte Harry Truman Jude sein? Hatten sie nicht gesagt, daß er Jude war? Wie konnte Floyd Patterson zugleich weiß und farbig sein? Warum war Beethoven nicht ein tauber Komponist, sondern vielmehr ein Junge, der sich vorgenommen hatte, das Pratt Institute zu besuchen, und der dann vor Tarawa

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