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Schock

Titel: Schock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hunter Evan
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Ich weiß, daß ich sie anstarrte und sie dann in erneutem Staunen berührte, daß ich sah, was meine Hände seit Monaten kannten; sie blickte scheu zur Seite, ich weiß es noch. Ich entsinne mich ihrer mit unendlicher Zärtlichkeit, entsinne mich all der Liebe, die ich für sie empfand, an das seltsam helle Pochen meines Herzens, sooft ich sie in dem karierten Mantel sah, mit verlegenem Gesicht, als überwältigten sie ihre eigenen Gefühle auf eine Art, deren man sich zu schämen hatte.
    Seltsam, wie sehr ich sie liebte, und wie plötzlich diese Liebe erkaltete und starb. Der Bruch war so klar und eindeutig wie der Schnitt eines Messers, ein Akt klinischer Chirurgie, behutsame Resektion des Herzens, das noch in der Hand pocht, bevor es in den Abfallkübel geworfen wird. Zuerst war sie für mich die ganze Welt, und dann nichts mehr. Ich sagte es ihr in der Straßenbahn auf dem Rückweg von Mount Vernon, wo wir einen Film gesehen hatten – ich glaube, es war Strike up the Band mit Judy Garland und Mickey Rooney. Vielleicht war es dieser, vielleicht auch ein anderer Film; im Grunde konzentrierte ich mich nur darauf, wie ich es ihr sagen würde. Ich hatte schon im Sommer mit L.J. und Beethoven darüber gesprochen. Wir hatten den Sommer außerhalb der Stadt verbracht – Rotweste war, glaube ich, nicht dabei; nein, er stieß erst später zu unserer Gruppe. Aber ich hatte mit den Jungens darüber gesprochen, nachts, wenn es still war und wir in dem engen tapezierten Zimmer in unseren Betten lagen. Ich entsinne mich noch der Frau, die Salate anrichtete, ja, wir waren in einem Restaurant zur Aushilfe, richtig, sie hieß Gladys, eine große Frau, deren Sohn schon zur Schule ging, sie wohnte an der Fordham Road. Ich weiß noch, daß sie eines Nachts in L.J.s Bett war, glaubte aber nicht, daß er etwas mit ihr gemacht hat; trotzdem verstand ich beim besten Willen nicht, was sie in seinem Bett wollte – hatte er gesagt, daß ihm kalt sei? Ich habe es nie begriffen. Aber ich sprach mit ihnen über Doris, möglicherweise handelte es sich auch um ein anderes Mädchen, das ich vielleicht nur zu meiner Entschuldigung erfunden hatte – vielleicht war es mit Doris schon lange aus, bevor ich mit den Jungens in die Berge aufbrach – ja, natürlich, es war irgendwo dort draußen, in Goldschmidt's Hacienda etwa? Nein, das war nur der Name, den wir dem Haus gegeben haben.
    Ich sagte es ihr in der Straßenbahn. Es war September. Ich war gerade mit den Jungens von Goldschmidt's zurückgekommen. Sie trug mein silbernes Schulabzeichen auf dem Aufschlag ihres karierten Mantels, vielleicht auch eines anderen Mantels, ich weiß nur noch, daß ich das silberne Abzeichen anstarrte. So war es leichter, mit ihr zu sprechen. Klar und eindeutig, das war die beste Art, hatte L.J. gesagt; infolgedessen starrte ich auf das silberne Abzeichen und sagte: »Doris, ich muß mit dir sprechen.« Aber sie wußte es schon. Ich sah, daß sie plötzlich die braunen Augen senkte, ich sah, wie ihre Hände, die sie im Schoß hielt, zitterten, und ich begriff: sie wußte es schon. Im Kino hatte ich sie weder geküßt noch getan, was wir sonst im Kino zu tun pflegten. »Ich möchte Schluß machen«, sagte ich, klar und eindeutig, wie L.J. es mir empfohlen hatte. Klar und eindeutig, ich spürte, wie das glitzernde Skalpell ihr zwischen die Rippen fuhr. Sie nickte.
    »Gut«, sagte sie und hob nicht einmal den Blick.
    Klar und eindeutig.
    Es gibt nichts Klares und Eindeutiges. Als ich von der Marine auf Urlaub kam, traf ich sie wieder – es muß ungefähr zwei Jahre später gewesen sein. Ihr Vater lehrte Trompete; als ich sie damals zu Hause besuchte, hatte er einen Jungen im Wohnzimmer, der chromatische Tonleitern blies, vorwärts und rückwärts. Ich war in Ausgehuniform, trug die Schirmmütze, die ich überhaupt nur in New York getragen habe, und hatte drei Präservative im hinteren Rand der Mütze. Ich ging mit ihr ins Kino und parkte dann den Wagen meines Vaters auf einer Anhöhe, von der aus man die Ely Avenue überblickte.
    Ich hatte dieses Mädchen gekannt – sehr gut gekannt; und nun wehrte sie meine Hände ab und sagte: »Nein, ich weiß, wie das bei euch Seeleuten geht.« Ich brachte sie nach Hause. Vielleicht war es ihre Rache, vielleicht stand ihr nach dem Skalpellstoß in der Straßenbahn an einem hellen Septembertag eine kleine Rache zu. Nur eines irritierte mich: die eigentliche Rache, die Vergeltung, die sie nicht einmal beabsichtigt hatte,

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