Schock
Schlüssel. Folgte er nur seinem Instinkt …
Schlüssel, dachte er.
Tatsächlich, ich habe keinerlei Schlüssel bei mir.
Er traf diese Feststellung einigermaßen überrascht und versuchte sich daran zu erinnern, wie er am frühen Morgen im Central Park erwacht war – es schien Jahrhunderte zurückzuliegen – und wie er seinen kleinen Vorrat an weltlichen Besitztümern durchging. Er katalogisierte sie in Gedanken, in der Reihenfolge, in der er sie beim Erwachen gefunden hatte, und fragte sich, ob er schon dabei auf das Fehlen jeglicher Schlüssel gestoßen war. Ich erwachte mit einem Etui mit goldenem Federhalter und Bleistift, einem schwarzen Buch, in dem die Nummer MO 6-2367 stand, einem Fahrplan der New Yorker Central, einem Päckchen Zigaretten und einem Streichholzheft, zwei entwerteten Kinokarten und zwei Gelatinekapseln. Mehr hatte ich nicht. Keine Brieftasche, keine Uhr, kein Kleingeld. Und keine Schlüssel.
Daß er keine Schlüssel bei sich trug, hatte er bis vor wenigen Sekunden nicht zur Kenntnis genommen; jetzt kam es ihm sonderbar vor. Alle Leute haben Schlüssel bei sich, dachte er. Doch halt, Moment, nicht alle. Ein Gefängnisinsasse hat keine Schlüssel. Ein Insasse einer Irrenanstalt. Das Pochen in seiner linken Schläfe verstärkte sich plötzlich. Zugleich packte ihn beim Gedanken an die Kapsel, die er so leichtfertig verschluckt hatte, entsetzliche Angst. Was war das geheimnisvolle Pulver in der Gelatinehülle, nun schon in seinem Körper, langsam in seinen Blutkreislauf dringend? Wenn er ohne Schlüssel, ohne Brieftasche, ohne Uhr und ohne irgendwelches Geld erwacht war, war es dann nicht durchaus möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß er geradenwegs aus einer Anstalt kam, deren Insassen solche Dinge normalerweise nicht bei sich hatten? Doch halt, was tat er dann mit Federhalter und Bleistift? Entschuldige bitte, daß ich mit Bleistift schreibe, aber ich darf hier keine spitzen Gegenstände haben. Schön, Federhalter und Bleistift waren im Anzug; aber wenn ihm der Anzug nicht gehörte, gehörten ihm auch diese Dinge nicht, zusammen mit dem Fahrplan, dem schwarzen Buch und den Kinokarten. Ich habe keine Schlüssel, ich besitze nichts: ein Mann ohne Schlüssel hat keinen Besitz. Kein Haus, keinen Wagen, kein Bankschließfach, keinen Skiständer, keine Verantwortlichkeit.
Nichts.
Ich habe nichts, und ich bin nichts.
Er fühlte, wie das Messer des Friseurs über sein Kinn schabte. Schneid mir die Kehle durch, dachte er, warum zum Teufel eigentlich nicht? Ich habe nichts, ich bin nichts, infolgedessen bin ich so gut wie tot.
Das Flackern hinter seiner rechten Schläfe war ein wenig verblasst. Er war nun sicher, daß die Kapsel, die er genommen hatte, ein Beruhigungsmittel enthielt; er würde im Sessel des Friseurs einschlafen und Janet nie wieder sehen. Wie spät mochte es inzwischen geworden sein?
Die Uhr. Sie tickt im Wohnzimmer. Sie will die Uhr nicht kaufen; sie behauptet, sie wäre zu teuer. Flohmarkt in London, Portobello Road, die Kapelle, die vorübermarschiert und Midnight in Moscow spielt – war das im letzten Sommer? Und sie will die Uhr nicht kaufen, zu teuer, wir sollten den Verlockungen des Flohmarkts nicht nachgeben. Nun hängt die Uhr an der Wohnzimmerwand, ihr Ticken erfüllt die ganze Wohnung, von einem Rauschen kontrapunktisch überlagert, ich werde ertrinken.
Er zählt die Sekunden.
Er ist erstarrt, unfähig, sich zu bewegen. Man hätte die Uhr nicht kaufen sollen, man hätte nicht nach Mailand fahren sollen; denn in Mailand, allzu heiß, in Mailand mustert man einander in erstickender Hitze, die Augen gehen einem auf, und man fragt sich, wo alles geblieben ist. Der Kauf der Uhr in London gegen ihren Willen ist nur ein Widerhall von Mailand, wo das Erkennen blitzartig kam, grausam, endgültig. Die Uhr tickt so laut in der stillen Wohnung. Er kann sich nicht bewegen, es ist zu spät, die Uhr wirft Minuten in den Raum, die Uhr tickt Stunden herunter, die Uhr tickt ein Leben herunter, und es ist zu spät, er will sich nicht bewegen, zu spät.
Er weiß, wo. Er weiß es instinktiv.
Dan ist am Telefon, nein, da stimmt etwas nicht, die Gedankenkette stimmt nicht, da ist etwas, das er nicht sehen will. Dan redet mit kühl besänftigender Stimme. Das Telefon zittert in seiner Hand, aber Dan redet weiter, gelassen, endlos, erbitternd, das Telefon zittert. Verabredung, Leute, du lieber Gott, was willst du, Dan? Kannst du mich nicht in Ruhe lassen? Hörst du die verdammte
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