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Schock

Titel: Schock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hunter Evan
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bestand nicht darin, daß sie alles verleugnete, was wir voneinander wußten – damals, als wir in den Regen gerieten und der Blitz ringsum in die Bäume krachte, und wir fanden keinen Unterschlupf, waren durchnäßt bis auf die Haut, warteten, ob das Gewitter vorüberginge, immer noch das Begehren, einander zu berühren; schließlich rannten wir aus dem Wald bis zu einer Tankstelle, um Schutz vor dem abscheulichen Regen zu suchen, sie war damals sechzehn, es war im Frühling, bevor wir uns trennten, ihre Bluse klebte ihr auf der Haut, und der Tankwart glotzte sie an; ich hätte ihn schlagen, ihn umbringen können. – Nicht, daß sie verleugnete, was wir getan hatten, nicht, daß sie tat, als wären wir einander fremd, obwohl doch jeder ein gutes Teil vom Leben des anderen mitgelebt hatte – nein, sie verleugnete mich. Nicht das Äußerliche. Mich. So zu tun, als wäre ich nur ein Seemann, einer von vielen Seeleuten, und sie wußte, wie es bei Seeleuten geht. Ich, das war ich, unter der Ausgehuniform, ihre Hände hatten mich berührt, sie kannte mich, ich war nicht irgendein Seemann, ich war …
    Ich war …
    Tränen überströmten sein Gesicht. Er versuchte, durch den Tränenschleier zu spähen, denn er wußte, er mußte einen Friseurladen finden, er mußte rasiert sein, bevor er Janet wieder sah. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und dachte, Gott, das ist lange her, das war noch bevor Beethoven starb, zum Teufel, warum muß ich jetzt daran denken? Ist es überhaupt wichtig? Sie kannte mich damals nicht, nachts im geparkten Wagen, sie hielt mich für irgendeinen Seemann, das ist jetzt zwanzig Jahre her, oder wie lange auch immer, und nun weiß ich nicht, wer ich bin, was hat es also noch zu bedeuten?
    In einem Restaurantfenster sah er eine Uhr. Es war zehn Minuten vor elf. Wann hatte Janets Sitzung angefangen? Halb elf, oder was hatte sie gesagt? Dann würde sie um zwanzig nach elf wieder herauskommen, ihm blieb eine halbe Stunde, sich rasieren zu lassen. Vorausgesetzt, daß er einen Friseur fand.
    Er ging zur Lexington Avenue hinüber, bog dann nach rechts ab und eilte südwärts weiter. In der Mitte des nächsten Häuserblocks entdeckte er einen Friseurladen; er eilte gerade darauf zu, als die Welt vor seinen Augen verschwamm.

8
    Zuerst glaubte er, seine Augen tränten noch, doch als er sie rieb, fand er sie trocken. In diesem Augenblick war er überzeugt, Edward Vossler zu sein, der entsprungene Wahnsinnige. Er kniff die Augen zu, riß sie dann plötzlich wieder auf, wie um sich zu beweisen, daß dieses Verschwimmen aller Dinge, die er sah, gleich vorübergehen mußte. Doch als er dann die Lexington Avenue hinabsah, bot sich seinen Augen nur ein seltsames optisches Chaos; ein paranoischer Anfall, dachte er, gleich wird etwas Entsetzliches mit mir passieren. Was es sein würde, wußte er nicht. Vielleicht würde er auf dem Gehsteig niederstürzen, Schaum vor dem Mund wie ein Epileptiker; vielleicht würde er die Straße entlangrasen, ein Amokläufer, und Schaufensterscheiben einschlagen oder Frauen und Kinder erwürgen. Er wußte nur, daß mit seinen Augen etwas nicht stimmte. Das seltsam schiefe Durcheinander seines Blickfeldes weckte in ihm das Gefühl, als stimme alles nicht mehr, alles rings um ihn, alles tief in ihm. Wenn er die Augen öffnete, war ihm, als wäre er in einem Raum gefangen, gegen dessen Scheiben der Regen schlug; doch nein – was er sah, war nicht wirklich verschwommen, nicht so, wie Regen den Ausblick aus einem Fenster verschwimmen läßt oder Wasserfarben ineinander laufen; statt dessen war es, als sähe er zwar ein scharfes Bild, aber zugleich hinter oder vielleicht auch vor ihm ein Gespenst dieses Bildes, zwei Bilder also, nebeneinander, sich teilweise deckend, das Gespensterbild zur Rechten, irgendwie unscharf, als würden seine Konturen schmelzen. Gleichzeitig schien von seitwärts her seltsames Flackern zu kommen, ein pulsierendes Blinklicht, dessen Quelle er nicht sehen konnte, weil sie irgendwie hinter seinem Gesichtsfeld lag, weit hinter seiner rechten Schläfe, und doch konnte er es sehen, ein flackerndes Licht, farblos, an, aus, an, aus. In seiner linken Schläfe setzte ein pochender Schmerz ein, und ihm war, als würde die linke Seite seines Gesichts gefühllos, als würde seine linke Hand immer dicker, fast bewegungsunfähig, fast das gleiche Gefühl, wie wenn einem die Hand einschläft. Angst packte ihn, weil er nicht wußte, was als nächstes

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