Schockgefroren
Gesicht eines traurigen, müden, verwirrten und unschuldigen Jungen.
Es ist mein Gesicht.
»Das Foto wurde kurz nach Ihrer Befreiung gemacht«, sagt der Reporter.
Ich blicke auf das Bild, und es ist, als ob es zum Leben erwacht: »Kannst du dich ein wenig zur Kamera drehen«, sagt eine Stimme. Ich wende mich der Kamera zu, hebe meine rechte Hand und mache eine Faust. Der Zeigefinger deutet in die Richtung des Schreibtischstuhls. Ist es so recht, fragt diese kleine Geste, denn ich will ja nichts falsch machen. Da wo ich herkomme, kann ein Fehler das Leben kosten. In diesem Augenblick betätigt der Polizist den Auslöser. Für alle Ewigkeiten festgehalten oder so lange, bis dieses Polaroidfoto verblasst ist: Sascha Buzmann, neun Jahre alt, nach 86 Tagen aus der Hand seines Entführers befreit.
Der Reporter hat ein weiteres Foto parat. Dieses Mal ist es eine Schwarz-Weiß-Aufnahme. Darauf ist meine Mama zu sehen. Sofort fällt mir auf, wie ähnlich unsere Gesichtszüge sind. Und unsere Körperhaltung. Wer ihr Foto anfertigte, wahrscheinlich ein Journalist einer Zeitung, bat sie in mein Kinderzimmer. Hinter Mama hängt ein Poster an der Wand, darauf sieht man einen schnittigen Sportwagen, einen Porsche 959, der damals mein großer Traum gewesen war. Darunter sieht man mein Bett, rechts davon meinen Schreibtisch, darüber jede Menge Bücherregale. Darin habe ich fein säuberlich alle meine Masters-of-the-Universe-Figuren aufgestellt. Sie stehen in Reih und Glied, als warteten sie auf ihren Einsatz. Eine der Figuren, ein muskelbepackter Krieger auf einem Pferd, hält Mama in der rechten Hand. Der Journalist hat sie gebeten, sich der Kamera zuzuwenden. Mama hat dunkle Schatten um die Augen, man sieht ihr an, dass sie nächtelang nicht geschlafen hat. Sie präsentiert dem unbekannten Journalisten das Spielzeug, als wolle sie sagen: Das ist alles, was mir von meinem Jungen geblieben ist.
Der Reporter meint, dass dieses Foto in vielen Zeitungen veröffentlicht wurde. Man bat die Bevölkerung um Aufmerksamkeit. Man wollte den Entführer aufschrecken.
Auf einmal fällt mir der Ordner ein, den meine Eltern unten im Büfett verwahrten. Darin gab es noch mehr Zeitungsausschnitte, Fotos, Dokumente, Schriftzeugs. Ich habe ihn mir nie angesehen.
»Stammen die Bilder von meinen Eltern?«, frage ich. Der Reporter sagt, einige davon. Andere habe er in Archiven gefunden. 1986 war noch die Zeit vor dem Internet. Heute wäre das alles im Netz.
Allein beim Gedanken daran durchströmt mich Eiseskälte. Wie hätte ich vergessen können, wenn ein Mausklick genügt, um die Erinnerungen aus dem elektronischen Gedächtnis zu holen? Eine Büfettschublade lässt sich einfacher verschließen.
»Ihre Mutter meint«, fährt der Reporter fort, »als Sie wieder nach Hause kamen … sie sagte, es wäre ihr vorgekommen, als ob Sie nie weg gewesen wären. So hätten Sie sich nach der Entführung verhalten: als ob nichts passiert sei.«
Wir sitzen noch immer am Tisch, vor uns die Fotos. Ich stehe auf, gehe in die Küche und werfe die Kaffeemaschine an. Die Minuten, die es braucht, bis der Kaffee durchgelaufen ist, tun mir gut. Erst dann kehre ich zum Reporter zurück. »Ja«, sage ich. »Ich glaube, so wollte ich es: Als ob nichts passiert wäre.«
Ich nehme das Foto des kleinen Jungen in die Hand. Das Foto von mir. Wie lang meine Haare sind! Beinahe fallen sie mir auf die Schultern. Kein Wunder, dass mich der Kerl für ein Mädchen hielt. Und wie schmutzig mein Gesicht ist. Wie ängstlich meine Augen …
Auf einmal fällt mir etwas ein. »Ich weiß nicht, ob es noch am selben Tag passierte oder irgendwann später«, sage ich. »Aber ich erinnere mich an ein Protokoll. Ich musste es unterschreiben.«
Der Reporter sieht mich aufmerksam an. Dann wühlt er in seiner Aktentasche und zieht ein Papier hervor. »Wahrscheinlich wurden Sie gleich auf dem Revier befragt«, vermutet er. »Später noch einmal von einer Beamtin. Was Sie aber meinen, wurde zwei Tage nach Ihrer Befreiung angefertigt.« Er reicht mir das Papier. Amtsgericht Wiesbaden steht darauf. »Nachdem der Zeuge mit dem Gegenstand des Verfahrens bekanntgemacht worden war«, lese ich laut, »erklärte er nach eindringlicher Wahrheitsermahnung folgendes.«
»Der Zeuge sind Sie«, erklärt der Reporter. »Die ›eindringliche Wahrheitsermahnung‹ erging an Sie.«
Ich schüttle den Kopf. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich eindringlich zur Wahrheit ermahnt worden war. Wie um alles
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